4.11.15

 

Lafontaine und Varoufakis wollen die EU zerschlagen

Europas Linke hatte alle Hoffnungen in Tsipras gesetzt und erkannte am Ende ihre Machtlosigkeit. Daraus ziehen Oskar Lafontaine und Janis Varoufakis radikale Schlüsse: Die EU geht nur ganz anders.

"Wir sind entschlossen, mit diesem Europa zu brechen", schreibt der frühere Bundesfinanzminister und Linke-Vorsitzende Oskar Lafontaine gemeinsam mit dem früheren griechischen Finanzminister Janis Varoufakis, dem Präsidentschaftskandidaten der französischen Linksfront und Ex-Minister Jean-Luc Mélenchon, dem ehemaligen stellvertretenden italienischen Finanzminister Stefano Fassina und der griechischen Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou. Ihrer Ansicht nach sind EU und Euro das Projekt herrschender neoliberaler Interessen zum Schaden der Bürger.
"Wir müssen dem Irrsinn und der Unmenschlichkeit der aktuellen europäischen Verträge entkommen und sie von Grund auf erneuern, um die Zwangsjacke des Neoliberalismus abzustreifen, den Fiskalpakt aufzuheben und TTIP zu verhindern", schreiben Lafontaine und seine Mitstreiter in ihrem Aufruf mit der Überschrift "Ein Plan B für Europa".

Wer die tiefere Motivation der Autoren ergründen will, muss das Trauma erkennen, unter dem die gesamte europäische Linke leidet, seit sie mit ansehen musste, wie ihr Hoffnungsträger Alexis Tsipras im Sommer Verträge unterschrieb, die künftige griechische Regierungen zu einer Politik verpflichten, die Tsipras selbst jahrelang als "verbrecherisch und barbarisch" bezeichnet hatte. Wie gern hätte die Linke Syriza als "Beenderin der Austeritätspolitik" gefeiert, stattdessen verbog ihr Vorsitzender sie "zum ausführenden Organ der Diktatur der Troika", resümieren die stellvertretende Linke-Vorsitzende Janine Wissler und die Abgeordnete Nicole Gohlke.

Mit anderen Worten, sie fühlen sich von ihm verraten und verkauft, denn er führte die europäische Linke in ein Dilemma: Sie musste feststellen, dass sie nicht den geringsten Einfluss auf die Politik in Europa nehmen kann, ganz egal, ob sie an der Regierung ist oder nicht. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: "Sie dachten, sie hätten die Macht. Dabei waren sie bloß in der Regierung."

Nun bläst die prominente europäische Linken-Vorhut zur Attacke und singt das Hohelied nationalstaatlicher Souveränität: "Die Demokratien der Mitgliedsstaaten brauchen Luft zum Atmen und den politischen Raum, der ihnen die Möglichkeit gibt, sinnvolle Politik auf einzelstaatlicher Ebene voranzubringen." Mit ihrem Vorstoß treiben sie einen Keil in das linke Lager und bauen eine Front zu Gregor Gysi, der Links-Ökologin Katja Kipping und anderen Kräften auf, die auch weiterhin fest zur EU und zu Tsipras stehen. Gysi reiste sogar nach Athen, um Wahlkampf für die Reste der Syriza-Partei zu machen, die zerbrach, als sie im Parlament gegen die eigene Überzeugung und Programmatik stimmen musste.

Seither fragen sich viele Linke: War das wirklich nötig? Hatte Tsipras wirklich keine andere Wahl? Zweifel scheinen zumindest angebracht. Zwar wird sein Handeln offiziell auch von den neuen Euro-Gegnern wie Sahra Wagenknecht gerechtfertigt. "Die EZB hat ihn erpresst, weil sie damit drohte, die griechischen Banken pleitegehen zu lassen", nimmt sie den Syriza-Vorsitzenden in Schutz. Aber dass Tsipras bewusst den Varoufakis-Vorschlag einer Parallelwährung in den Wind schlug und die Forderung der Geldgeber akzeptierte, den Finanzminister von internationalen Konferenzen auszuschließen, stößt bei den Euro- und EU-Kritikern in den Reihen der Linken auf Unverständnis.

Hinzu kommt, dass Tsipras wohl auch Vorschläge für eine juristische Abwehr der von den Gläubigern geforderten Sparauflagen ignoriert haben könnte. Während des Referendums über die Sparauflagen der Gläubiger veröffentlichten die UN eine Stellungnahme der Menschenrechtsexpertin Victoria Danda und der Experte für demokratische und gleichheitsgerechte Ordnung, Alfred de Zayas, dass völkerrechtliche Verträge und Kreditvereinbarungen, "die zur Verletzung universeller Menschenrechte zwingen", nach Artikel 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention nichtig seien.
Bereits ein Jahr zuvor hatte die deutsche Menschenrechtsaktivistin Sarah Luzia Hassel-Reusing dem Syriza-Führer darauf hingeweisen, dass die Kreditverträge nicht mit den UN-Menschenrechten vereinbar seien. "Darauf hätte sich Tsipras berufen und mit Hilfe der UN vor den Internationalen Gerichtshof ziehen können", sagt Hassel-Reusing und stellt fest: "Jedenfalls sind die von ihm unterschriebenen Memoranden höchstwahrscheinlich nichtig."

Vor wenigen Tagen verabschiedete die UN-Generalversammlung ganz in diesem Sinne mit der überwältigenden Mehrheit von 136 zu sechs Stimmen "Neun Prinzipien für einen fairen Umgang mit überschuldeten Staaten". Sie lauten: Souveränität, guter Glaube, Transparenz, Unparteilichkeit, Gleichbehandlung, Staatenimmunität, Rechtmäßigkeit, Nachhaltigkeit und Mehrheitsentscheidungen.

Der UN-Beschluss war das Ergebnis einer vor einem Jahr eingeleiteten und auch von der Linken unterstützten Debatte. Dazu hatte die Fraktion zu Beginn des Jahres vergeblich einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem sie dazu aufrief, den Arbeitsprozess der Vereinten Nationen mitzugestalten. Sie forderte, "den Grundbedürfnissen der Bevölkerungen in den Schuldnerstaaten den Vorrang vor Ansprüchen der Gläubiger zu geben". Umso mehr fragen sich Linke heute, warum Tsipras diese Karte nicht gegen die EU zog.

Während er zu alldem schweigt, schreiben unter anderen Varoufakis und linke Ökonomen wie Heiner Flassbeck, Thomas Piketty und James Galbraith in einem offenen Brief zu den neun Prinzipien: "Auf der Grundlage solcher Prinzipien hätten die Fallstricke der griechischen Krise verhindert werden können, in der Politiker den Forderungen der Gläubiger nachgaben, obwohl diese ökonomisch keinen Sinn ergeben und sozial verheerende Auswirkungen hatten."

Heute schreiben Lafontaine und Varoufakis und die anderen "Plan B"-Autoren, die Verhandlungspartner hätten dem Linksbündnis nie eine Chance geben wollen. Ähnlich hatte sich Varoufakis bereits in mehreren Interviews geäußert.

Nun begründen sie diese Einschätzung mit dem Hinweis auf EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der gesagt haben soll, es könne "keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge geben". Lafontaine, Varoufakis und die anderen setzten diese Aussage in einen historischen Vergleich, der es in sich hat: "Das ist die neoliberale Adaption der Doktrin ,der beschränkten Souveränität', erfunden von Breschnew 1968. Damals haben die Sowjets den Prager Frühling mit ihren Panzern niedergeschlagen. Diesen Sommer hat die EU den Athener Frühling mit ihren Banken zerschlagen."

Und nun? Wie soll es weitergehen? Ihr Ziel ist eine "Kampagne des europäischen zivilen Ungehorsams gegenüber willkürlichen, europäischen Praktiken und irrationalen ,Regeln'", an die Tsipras sich noch gehalten hat. Sie wollen eine neue Bewegung gegen dieses Europa formen und hoffen dabei auf das, "was in Spanien, Irland – möglicherweise wieder in Griechenland, abhängig von der Entwicklung der dortigen politischen Situation – und in Frankreich 2017 passieren könnte". Kurz, sie hoffen auf eine Radikalisierung der politischen Debatte und folglich auch der europäischen Gesellschaften zugunsten der marxistischen Linken. Über erstarkende Bewegungen in den Mitgliedsstaaten wollen sie ein neues Europa schaffen.

Die Gruppe um Lafontaine denkt bereits über vieles nach: "die Einführung eines parallelen Zahlungssystems, Parallelwährungen, digitalisierte Euro-Transaktionen, einen Austritt aus der Euro-Zone sowie die Umwandlung des Euro in eine (demokratische) Gemeinschaftswährung". Sie schlagen einen internationalen Gipfel für alle "interessierten Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und Intellektuellen" vor. Im November soll's losgehen.

 

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