5.7.24
Kindheitsevangelium Jesu (KThom)
Die meisten Forscher sehen in der Erzählung eine mehrheitsfähige, nicht zwingend von der Norm abweichende Christologie und argumentieren, der Jesu des KThom habe viel mit dem Jesus der kanonischen Evangelien gemeinsam, der in diesen ebenfalls Flüche und Wehe-Rufe ausspricht. Zugegebenermaßen beinhaltet das KThom nur wenige christologische Begriffe und Titel. Zudem gibt es keinen Verweis auf Jesu Passion und Auferweckung. Der christologische Schwerpunkt liegt klar auf einem anderen Gebiet, nämlich auf Jesu Kraft, Wunder zu wirken und auf seiner Weisheit. Beide verweisen wiederum auf seinen göttlichen Ursprung (8.1) und auf seinen Auftrag, Erlösung zu bringen (16.3). Jesus bezeichnet Gott außerdem als seinen Vater und gibt an, in seinem Namen und Auftrag zu arbeiten (12.2). Der Jesus des KThom ist somit nicht weniger göttlich als der des Neuen Testaments. Ebenso wie dort wird er auch im KThom als ganz göttlich und ganz menschlich dargestellt, allerdings mit einer überraschenden Wendung: Er ist nicht nur wahrer Gott und wahrer Mensch, er ist auch wahrer Gott und wahres Kind.
Auch wenn die Flüche Jesu aus
einer modernen Perspektive problematisch erscheinen,
lassen sie sich doch einordnen und erklären. Zunächst können sie als
Mittel der Fokussierung auf die Christologie der Erzählung verstanden
werden: Sie demonstrieren Jesu Überlegenheit und göttliche Macht, mit
der er auch das Recht hat, Leben zu geben und zu nehmen. Zudem sind die
Flüche nicht willkürlich, sondern werden gezielt ausgesprochen:
Diejenigen, die verflucht werden, hätten erkennen sollen, wer Jesus ist.
Der oder die Urheber der Geschichte und auch die Zuhörerinnen und
Zuhörer wissen dies – die Figuren aber haben es noch nicht verstanden.
Die Ethik der Verletzlichkeit
Die Omnikrise und die vielen Konflikte der Gegenwart führen tagtäglich vor Augen, dass unser Leben viel stärker von Verletzlichkeit geprägt ist, als wir es wahrhaben wollen.
Verletzlich ist der Mensch, weil – trotz aller Planung und Kontrolle – das Kontingente nicht abgeschafft werden kann.
Jederzeit können wir mit Übeln konfrontiert werden, die uns aus den gewohnten Bahnen werfen.
Dabei zeigt sich, dass das vorherrschende individualistische Menschenbild der Unabhängigkeit und Nicht-Angewiesenheit eine Illusion ist.
Verletzlichkeit als
„Grundsignatur der menschlichen Existenz“ (Giovanni Maio) verweist auf
die wechselseitige Angewiesenheit der Menschen:
„Das Bewusstsein der
Verletzlichkeit erst macht den Menschen zum Menschen, indem es
Fähigkeiten in ihm hervorruft, die ohne Verletzlichkeit nicht zur
Geltung kommen könnten.“
Es befähigt nicht nur zur Sensibilität, sondern
ist auch ein Aufruf zur Verantwortungsübernahme.
Letztlich ist die
Verletzlichkeit etwas, was alle Menschen miteinander verbindet.
Dabei
ist nicht nur der Mensch verletzlich, sondern auch das Tier und die
gesamte Natur.
Johannes Kaup hat den renommierten Arzt, Medizinethiker und Philosophen Giovanni Maio an der Universität Freiburg besucht. Im Gespräch über die vielen Dimensionen der Verletzlichkeit macht Giovanni Maio deutlich, warum wir eine Ethik der Verletzlichkeit brauchen.