Mit einer großen Gebetsfeier endet am Sonntag den 15.8.2015 eine "Solidaritätswoche", mit der die ökumenische
Gemeinschaft von Taizé dreier wichtiger Jahrestage gedenkt. Im Interview
spricht Taizé-Prior Frère Alois über den Blick zurück und den Blick
nach vorn.
KNA: Frère Alois, was war bislang Ihre größte Überraschung in dieser Woche?
Frère Alois (Taizé-Prior): Die Reife der
Jugendlichen. Mehrere tausend sind hier, die sehr motiviert nach
Solidarität suchen und sich dafür einsetzen; das kann man gar nicht hoch
genug einschätzen. Viele Jugendliche sind nicht so passiv, wie man
manchmal den Eindruck haben könnte. Taizé soll für die Jugendlichen
keinen Rückzug auf sich selbst bedeuten. Das Gebet, das die Mitte
unseres Lebens hier darstellt, soll ja zu Hause weitergehen und uns
helfen, die Augen auf der Suche nach Solidarität zu öffnen.
KNA: Wie kommt das jugendbewegte Taizé mit der
"Generation Smartphone" klar? Selbst in der totalen Stille der
romanischen Kirche des Ortes surft jeder Dritte in den sogenannten
Sozialen Netzwerken.
Frère Alois: Bei den gemeinsamen Gebeten hört man
nur ganz selten ein Handy klingeln. Viele sagen uns auch, dass sie hier
ganz bewusst ihr Telefon abschalten. Und wir müssen doch dankbar sein,
dass viele Jugendliche heute auf diese Weise die Globalisierung leben
und miteinander verbunden sind - oft aus Freundschaft und um sich
gegenseitig kennenzulernen. Das ist nicht nur negativ.
KNA: Sie haben im Vorfeld den Begriff "Gedenken"
soweit wie möglich gemieden und lieber von einer "Solidaritätswoche"
gesprochen. Aber wenn am Sonntag rund 100 Vertreter christlicher
Konfessionen und anderer Religionen anreisen: Kommen die wirklich vor
allem wegen der Solidarität - oder auch wegen Frère Roger?
Frère Alois: Beides. Für Frère Roger gehörte
Solidarität ganz wesentlich zu unserer Gemeinschaft. Er sprach in den
70er Jahren von "Kampf und Kontemplation". Wir sind sehr dankbar, dass
dieses Thema in vielen christlichen und religiösen Gemeinschaften
lebendig ist.
KNA: Apropos Solidarität. Taizé ist zwar nie
parteipolitisch oder allzu tagespolitisch gewesen - aber ist doch am
Ende stark politisch engagiert. Was kommt Ihnen zu dem Begriffsfeld EU -
Flüchtlinge - Finanzkrise - Griechenland als erstes in den Sinn?
Frère Alois: Zuerst die Angst vor dem Unbekannten.
Die müssen wir sehr ernst nehmen. Denn die Migration wird unsere
Gesellschaften tief verändern. Die Frage ist: Wie gehen wir darauf ein?
Nur mit Angst - oder auch mit Offenheit? Ich bin ganz erstaunt, dass -
sobald dieses Thema hier angesprochen wird - immer jemand von einer
konkreten Initiative berichtet. In einer Kleinstadt in Süddeutschland
hat zum Beispiel der Stadtrat die Bürger aufgefordert, jugendliche
Migranten für einige Jahre bei sich aufzunehmen - und es haben sich
tatsächlich Familien gemeldet. Wir sollten also nicht den Teufel an die
Wand malen. Es passiert sehr viel Gutes.
KNA: Haben Sie nachts schon mal die Sorge, als Prior eine falsche Weichenstellung oder Entscheidung zu treffen?
Frère Alois: Diese Sorge ist immer da - aber vor
allem für uns als Gemeinschaft: Jeder Bruder soll sich entfalten können.
Das hat jedoch auch mit Loslassen-Können zu tun. Denn unser
lebenslanges Ja zu Christus beinhaltet ein Nein zu vielem anderem - auch
zu sehr positiven Dingen, zu anderen Lebensweisen, anderen Engagements.
Wir müssen bereit sein, Dinge aufzugeben. Das ist für viele junge
Leute heute nur schwer zu verstehen. Sie wollen oft alles sofort haben,
und auch Christus nachzufolgen, soll vor allem mit einer großen
persönlichen Entfaltung einhergehen. Das kann der Fall sein, ja - aber
es verlangt auch einen Verzicht auf vieles andere. Diese Frage
beschäftigt mich derzeit sehr stark: Wir dürfen den Jugendlichen nicht
ein Selbstentfaltungs-Evangelium vorspiegeln, das es so nicht gibt.
Liebe und Freude gibt es nicht ohne Verzicht.
KNA: Frère Roger hat sich sehr intensiv mit dem
abendländischen Mönchtum auseinandergesetzt - und am Ende die Parole
ausgegeben: den Blick immer nach vorne, nie zurück. Nicht erstarren,
nichts besitzen, sondern immer neu zuhören und erneuern. Das hatte
bislang Erfolg. Aber inzwischen hat Taize längst eine Geschichte, eine
Tradition. Viele Ordensgemeinschaften sind irgendwann vom eigenen Erfolg
niedergewalzt worden.
Frère Alois: Die Gefahr gibt es sicher. Aber gerade
in dieser Woche, wo wir Brüder aus allen Fraternitäten auf der ganzen
Welt zusammengekommen sind, spüre ich: Die Tatsache, dass wir täglich in
aller Welt mit den Jugendlichen zusammenleben und Antworten auf ihre
Fragen suchen, hält uns jung. Wir können uns nicht auf uns selbst
zurückziehen und unser Leben nur unter uns leben. Wenn etwa die Brüder
aus Bangladesch oder Korea über die Armut und die Aufrüstung in diesen
Ländern berichten, dann können wir es uns nicht einfach in Taizé oder
anderswo bequem machen.
KNA: Und Sie sind auch nie ein großer Orden geworden.
Frère Alois: Es hilft uns, dass wir nur eine kleine
Gemeinschaft von rund 100 Brüdern sind, die an verschiedenen Orten auf
der Welt leben. Wir kommen aus 30 verschiedenen Ländern und haben ganz
unterschiedliche Mentalitäten. Aber wir kennen einander und leben wie
eine große Familie zusammen, die gemeinsam Versöhnung verwirklichen
will. Wir sehen uns nicht als Institution. Misserfolge erden uns,
genauso die Erfahrung, dass nicht immer alles möglich ist. Selbst wenn
wir dreimal am Tag gemeinsam beten, bedeutet das nicht automatisch
Gemeinschaft und Versöhnung. Es ist mit einer Anstrengung verbunden. Und
wenn ein Bruder die Gemeinschaft verlässt, dann ist das so, als müssten
wir von Neuem anfangen.
Dem Bruder ein Bruder sein, nur das überzeugt die Jugendlichen, die
hierherkommen. Worte allein bleiben nur Worte. Nur unser Lebenszeugnis,
unsere Suche nach Versöhnung, die auch mit Misserfolgen zurechtkommen
muss, hält uns jung - und kann den Jugendlichen das Evangelium
näherbringen.
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