In ihrer klassischen Studie
Interviews mit Sterbenden
entwickelte
Elisabeth Kübler-Ross ein Schema der fünf Phasen, mit denen wir auf die Diagnose einer
unheilbaren Krankheit reagieren:
Nicht-wahrhaben-Wollen
(man weigert sich schlicht,
die Tatsache zu akzeptieren: "Das kann nicht sein, nicht bei mir");
Zorn
(man gerät
außer sich, wenn sich die Tatsache nicht leugnen lässt: "Wieso ausgerechnet ich?");
Verhandeln
(die Hoffnung, dass wir die Wahrheit hinauszögern oder abschwächen
können: "Ich will wenigstens noch den Schulabschluss meiner Kinder erleben");
Depression
(der Abzug der libidinösen Besetzung: "Ich werde sterben, jetzt ist mir
alles egal");
Zustimmung
("Da ich nichts dagegen tun kann, kann ich mich genauso gut
darauf vorbereiten"). Kübler-Ross wandte diese fünf Phasen später auf jede Form eines
katastrophalen Verlusts an – auf Arbeitslosigkeit, den Tod eines geliebten Menschen, eine
Scheidung, Drogenabhängigkeit – und betonte, dass sie nicht unbedingt in derselben Reihenfolge
auftreten und auch nicht alle Betroffenen sämtliche Phasen durchlaufen.
Ist die Reaktion der öffentlichen Meinung und der zuständigen staatlichen Stellen in
Westeuropa auf den
Zustrom von Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten nicht eine
vergleichbare Kombination verschiedener Reaktionen? Es gibt, wenn auch in abnehmendem Maße,
das Nicht-wahrhaben-Wollen: "So schlimm ist es nicht, ignorieren wir es einfach." Es gibt
Zorn: "Die Flüchtlinge sind eine Bedrohung für unsere Lebensweise, unter ihnen verbergen sich
muslimische Fundamentalisten, wir sollten sie um jeden Preis aufhalten!" Es gibt die Hoffnung
auf eine Verhandlungslösung: "Okay, lasst uns Quoten festlegen und Flüchtlingslager in ihren
Heimatländern finanzieren!" Und es gibt die Depression: "Wir sind verloren, Europa verwandelt
sich vor unseren Augen in Europastan!" Was es nicht gibt, ist Zustimmung, also in diesem Fall
einen konsistenten gesamteuropäischen Plan für den Umgang mit den Flüchtlingen.