16.7.16

 

Putschversuch in der Türkei

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei greift die Regierung durch: Tausende Richter wurden abgesetzt, fast 3000 mutmaßliche Putschisten festgenommen. Bei dem Putschversuch starben mindestens 265 Menschen, mehr als 1400 wurden verletzt.

Der Putschversuch zeigt, in welch tiefer Krise die türkische Demokratie steckt. Verantwortlich dafür sei vor allem der Präsident, meint Reinhard Baumgarten. Erdogan treibe die Demontage des Rechtsstaates voran - und werde von dem gescheiterten Putsch profitieren.

In der Nacht haben sich in den Straßen von Ankara und Istanbul dramatische Szenen abgespielt. In beiden Städten fuhren Panzer auf, waren Explosionen und Schüsse zu hören. Bilder aus Ankara zeigten Menschen, die sich in den Straßen um Verletzte kümmerten. Viele wurden auf türkische Flaggen gebettet oder damit zugedeckt. In der Nähe des Armeehauptquartiers fuhren zahlreiche Krankenwagen mit Blaulicht auf. Auf dem Taksim-Platz in Istanbul liefen Dutzende Menschen in
Panik davon, als Kampfjets im Tiefflug über den Platz jagten. Einige warfen sich sofort auf den Boden, andere suchten hinter Autos und Lastwagen Schutz.

Nach offiziellen Angaben gibt es mindestens 60 Tote. 754 Putschisten sollen bislang festgenommen worden sein. Die Regierung gibt vor, die Lage zumindest in Istanbul weitgehend im Griff zu haben. So sollen regierungstreue Truppe unrer anderem den Atatürk-Flughafen kontrollieren. Auf CNN Türk waren Bilder zu sehen, wie Dutzende Soldaten mit erhobenen Armen eine der beiden großen Bosporus-Brücken verließen. Offenbar stellten sich nicht nur Anhänger Erdogans, sondern breite Teile der Bevölkerung gegen die Putschisten. Vor dem Flughafen zum Beispiel zogen mehrere Tausend Demonstranten auf. Auch die Oppositionsparteien kritisierten den Putschversuch scharf.

Erdogan meinte, die Aufständischen würden "keinen Erfolg haben". Ministerpräsident Yildirim sagte, der Putschversuch sei "abgewendet". Trotzdem erklärten die aufständischen Militärs in einer E-Mail, sie würden weiter kämpfen. Sie riefen die Bevölkerung auf, zu ihrer eigenen Sicherheit in geschlossenen Räumen zu bleiben. Die Gruppe nennt sich "Bewegung für Frieden in der Heimat".


Der türkische Präsident Erdogan kündigt hartes Vorgehen gegen die Putschisten an.



Die Lufthansa streicht für heute alle Flüge von Deutschland in die Türkei. Betroffen sind ein Dutzend Verbindungen zu den Zielen Istanbul, Ankara, Bodrum, Izmir und Antalya. Auch die Rückflüge von der Türkei nach Deutschland sind gestrichen. Gleiches gilt für Flüge der Tochter-Airline Eurowings.

Das Armee-Hauptquartier in Ankara soll nach Angaben aus Regierungskreisen der "letzte Stützpunkt" der Putschisten sein. Aus dem Gebäude würde noch geschossen, zitiert die Nachrichtenagentur dpa eine nicht namentlich genannte Quelle.
Zuvor war gemeldet worden, dass sich vor dem Gebäude etwa 200 Putschisten ergeben hätten.


Die Nachrichtenagenturen Reuters und AP melden mehr als 1500 festgenommene Putschisten. Demnach seien fünf Generäle und 29 Oberste ihrer Posten enthoben worden.
Bei Luftangriffen der Putschisten auf das Parlament in Ankara wurde das Gebäude beschädigt. Auf Fernsehbildern waren Trümmer, zerborstene Scheiben und gravierende Schäden am Mauerwerk zu sehen.

Ministerpräsident Binali Yildirim hat trotzdem eine Dringlichkeitssitzung des Parlaments einberufen. Neben der regierenden AKP hatten auch alle drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien den Putschversuch verurteilt.




Liveblog zu den Ereignissen in der Türkei


Yıldırım erklärt Bilanz des Putsch-Versuchs


Ministerpräsident Binali Yıldırım hat die Zahl der Toten bei dem Putschversuch in der Türkei als 161 angegeben. 1140 Menschen seien verletzt. Bislang seien insgesamt 2839 Soldaten festgenommen worden. Dies teilte Yıldırım in einer Pressekonferenz zusammen mit einigen Ministern und dem Generalstabschef Hulusi Akar mit, der von den Putschisten eine Zeit lang als Geisel genommen worden war.

Yıldırım sagte, dass die türkische Nation sich tapfer gegen den Putschversuch der terroristischen Gülen-Bewegung gestellt habe. Der 15. Juli müsse als Demokratie-Fest begangen werden. Dieses Ereignis habe der ganzen Welt gezeigt, wie erfahren das türkische Volk in Sachen Demokratie sei. Die Bürger, die sich mit Fahnen vor die Panzer legten sowie die Märtyrer würden niemals in Vergessenheit geraten.

Yıldırım bedankte sich auch für die Solidaritätsbotschaften von Parteichefs und befreundeten Ländern und sagte, dass die Putschisten entsprechend bestraft würden: „Diejenigen, die mit staatlichen Kampfjets, Hubschraubern und Panzern auf das Volk feuern sind noch niedriger als die Anhänger der Terrororganisation PKK. Niemand kann mit dem Willen dieses großen Volkes Spiele spielen“, sagte Yıldırım.


Putschversuch: Adem Huduti und Avni Angun in Untersuchungshaft

 Im Rahmen der Ermittlungen gegen die Fetullah-Anhänger Terrororganisation (FETÖ) sind General Adem Huduti  und Garnisonskommandant von Malatya, Generalmajor Avni Angun  in Untersuchungshaft genommen worden.

Im Rahmen der Ermittlungen gegen die Fetullah-Anhänger Terrororganisation (FETÖ) sind der 2. Kommandant der Armee, General Adem Huduti  und der 2. Stabschef und Garnisonskommandant von Malatya, Generalmajor Avni Angun in Untersuchungshaft genommen worden.
Bei der Operation seien neben General Huduti und Generalmajor Angun, 10 Personen, 2 Brigadegeneräle und 4 Soldaten in Untersuchungshaft genommen worden.
Auch der ehemalige Kommandant der Luftwaffe, General Akın Öztürk sei unter den Personen, die in Untersuchungshaft sitzen.

Öztürk und die anderen Soldaten hatten die Waffen niedergelegt, als sie sich stellten. Major Fatih Kılınç von den Putschisten war tot.


Erdogan wird jetzt richtig aufräumen 

Grünen-Chef Cem Özdemir gehört in Deutschland wohl zu den lautesten Kritikern des türkischen Präsidenten Erdogan. Nach dem gescheiterten Putschversuch meldet sich der Deutsch-Türke zu Wort. Er verurteilt den Putsch - und die Politik Erdogans.

Der Putschversuch ist Gott sei Dank gescheitert. Wer die autoritäre Herrschaft von Erdogan beenden will, muss das an der Wahlurne machen, aber nicht indem er Panzer rollen lässt und Ängste durch einen schrecklichen Militärputsch erzeugt. Die Menschen in der Türkei wissen, was Militärherrschaft heißt. Sie erinnern sich an den Militärputsch 1980, bei dem hunderttausende Menschen in Kellern verschwunden sind und gefoltert wurden. Das ist keine Lösung. Das Militär ist in einer Demokratie nicht dazu da, um zu entscheiden wer regiert. Das müssen die Bürgerinnen und Bürger der Türkei machen. Allerdings ist zu befürchten, dass Erdogan diesen Putsch zum Anlass nehmen wird, um richtig aufzuräumen.

Was halten Sie von der Vermutung, Erdogan könnte selbst hinter dem Putsch stecken?
Dass es diese Spekulation gibt, zeigt ja, dass man in der Türkei vieles für möglich hält. Ich halte es nicht für sehr realistisch, dass Erdogan den Putsch selbst organisiert hat. Ich habe aber die Befürchtung, dass er ihn zum Anlass nehmen wird, bei der Gelegenheit nicht nur die Verantwortlichen, sondern auch viele andere auszuschalten. Erdogan möchte die Türkei in eine Art Präsidialdemokratie verwandeln, wie er es nennt. In Wirklichkeit ist es wohl eher eine Präsidialdiktatur. Das ist jetzt ein weiterer Meilenstein auf dem Weg dahin. Erdogan wird die Türkei weiter umbauen, von Demokratie wird da nicht viel übrig bleiben.
Wer könnte dahinter stecken und was wollten die Putschisten erreichen?
Das sind alles Spekulationen, wer es war. Erdogan sagt, dass es die Gülen-Bewegung war. Andere sagen, dass es kemalistische Offiziere gewesen sind. Wer immer es war, es ist nicht zu rechtfertigen. Die Türkei braucht die Demokratie. Bei allen Befürchtungen hoffe ich, dass der türkischen Zivilgesellschaft nicht völlig der Garaus gemacht wird. Allerdings muss man bei Erdogan Schlimmes befürchten.

Gibt es Möglichkeiten, die Türkei zu stabilisieren?
Zur Ehrlichkeit gehört, dass die Einflussmöglichkeiten, die die Europäische Union in Richtung Türkei hat, doch sehr begrenzt sind. Die Beitrittsverhandlungen sind Proforma-Verhandlungen. Wir tun so, als ob die Türkei eine Chance auf eine Mitgliedschaft hätte und Erdogan und die Türkei tun so, als ob sie daran interessiert wären. Beide wissen, dass es so schnell nichts wird. Unter Erdogan hat die Türkei nicht wirklich eine Chance, weil sie alle Voraussetzungen für einen Beitritt gerade beseitigt. Trotzdem gibt es ein strategisches Interesse, Deutschlands und der EU die Türkei in Richtung Europa auszurichten. Für den Fall einer Post-Erdogan-Türkei ist es wichtig, dass wir die Tür offen halten. Der europäische Teil des Landes, also die Menschen, die eine Demokratie wollen, haben einen Platz in der Europäischen Union. Der autoritäre Teil der türkischen Gesellschaft, ob das Militär oder das Erdogan-Regime, werden es sicherlich nicht schaffen, die Türkei in die EU zu bringen.
  
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