3.9.16

 

Die Seele des Kindes

1. Das Kind hat vor der Geburt unmittelbar Anteil am körperlichen und seelischen Leben der Mutter: Das Kind spürt im Mutterleib alle körperlichen und seelischen Regungen der Mutter:
Herzklopfen, Angst, Anspannung, Entspannung, Traurigkeit, Wut, Stress, Lust, ...
2. Das Kind kann vor der Geburt und einige Zeit nach der Geburt zwischen Mit-Gefühl und eigenem Gefühl nicht unterscheiden. Es lebt in der Identifikation, in einer seelischen Einheit mit der Mutter. Dabei können die Gefühle der Mutter in der Seele des Kindes mächtiger sein und mehr seelischen Raum beanspruchen als die eigenen Gefühle des Kindes. Die Seele des Kindes ist weit gehend "besetzt" von den Gefühlen der Mutter.
3. Das Kind ist Teil der Seele der Mutter und des Vaters.
Die körperliche Verbindung von Vater und Mutter schafft einen gemeinsamen seelischen Raum, den das Kind als den eigenen seelischen Raum erlebt. Das Kind kann deshalb seelische Empfindungen beider Elternteile als seine eigenen empfinden.
4. Am stärksten spürt das Kind die seelischen Energien, die die Eltern verdrängen, "runterschlucken", nicht ausdrücken, nicht wahrhaben möchten, nicht aushalten können.
Im körperlich-seelischen Gedächtnis (im "Unbewussten") bleiben sie gespeichert und lebendig.
Die Seele des Kindes wird zum Zufluchtsort der verdrängten Seelenteile der Eltern:
- Der Verdrängungen von Ereignissen und Gefühlen aus der aktuellen Lebenssituation
- Der Verdrängungen von Ereignissen und Gefühlen aus früheren Lebensphasen (z.B. aus der Kindheit der Eltern)
5. Das kleine Kind lebt weitgehend "unbewusst": in körperlich-seelischer Wahrnehmung.
Aber die Körper-Seele-Einheit des Kindes nimmt die eigene Beziehungswelt und die der Eltern äußerst empfindsam wahr.
Ein Kind ist seelisch zwischen den Eltern: durch das Kind fließt hindurch, was die Eltern innerlich miteinander verbindet oder gegenseitig belastet. Es spürt, was die Eltern sich gegenseitig antun und auch, was sie in ihrer Kindheit erlitten haben.
6. Das Kind ist der "schwächste" Teil der Seele der Eltern, es kann sich nicht "zusammenreißen", nicht sich beherrschen, den Körper nicht dem Willen unterwerfen:
Durch das Kind kann das ungelebte seelische Leben der Eltern an die Oberfläche fließen und so "zur Welt kommen". Das Kind kann zu einem "seelischen Geburtskanal" für die verdrängten oder abgewerteten Seelenanteile der Eltern werden.
7. Die Seele (Innenwelt der Gedanken und Gefühle) will zur Welt kommen;
die Innenwelt will sich in der Außenwelt ausdrücken; das Geistig-Seelische will materielle Gestalt annehmen; Verkörperlichung (Inkarnation) ist ein Urgeschehen des körperlich-seelischen Lebens.
Im Kind sucht das Verleugnete, das Abgewertete, das Unterdrückte, das Ungelebte der Eltern einen Weg an die Oberfläche der Wirklichkeit.
8. Wenn das Kind geboren ist, ist seine Seele noch lange nicht geboren.
Die seelische Geburt ist eine lebenslange Entwicklung, die von fundamentalen seelischen Grund-bedürfnissen geprägt ist:
(1) Dazugehören dürfen, angenommen sein (aber nicht als "Eigentum").
(2) Wahrgenommen werden: zuerst äußerlich, später immer mehr auch geistig-seelisch (durch Interesse und Mitgefühl)
(3) Sich unterscheiden dürfen, anders sein dürfen (auch gegenüber den Eltern), ein Original sein dürfen.
(4) Sich zeigen dürfen: ausdrücken dürfen, was man empfindet, will und denkt.
(5) Geachtet sein im "Anders-sein" (einen Platz des Wohlwollens und der Achtung haben im
"Herzen" der Eltern) und die Eltern achten können.
9. Das Kind erlebt die Welt und die Menschen extrem subjektiv:
das heißt, alle Ereignisse bezieht es direkt auf sich selbst (Allmächtigkeitsvorstellung bzw. totales Ausgeliefertsein):
- "was habe ich angestellt, dass die Eltern sich trennen?"
- "was habe ich angestellt, dass Mama so wenig Zeit für mich hat"
Das Kind bekommt deshalb schlimme Schuldgefühle und/oder Wut, wenn die Eltern es vernachlässigen, wenn sie sich scheiden lassen, wenn ein Elternteil stirbt, wenn es seelisch oder körper-lich missbraucht wird, ...........
10. Neben Schuldgefühlen und Wut können bei Schicksalsschlägen und anderen seelischen Belastungen aber auch noch entstehen:
Ängstlichkeit, Misstrauen gegen sich und andere, Handlungsblockaden, Entscheidungsblockaden, Überaktivität, Schüchternheit, Überanpassung, Minderwertigkeitsgefühle,
weil das Kind die Ursachen für seine seelischen Schmerzen nicht durchschaut und alles Leidvolle durch das eigene Dasein und durch das eigene Verhalten begründet glaubt.
11. Das Kind hat eine sehr sensible Wahrnehmung für Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen oder Abwertungen im Denken und Verhalten der Eltern, aber auch für das Vergessen oder Verleugnen von Menschen, die zum Verwandtschaftssystem dazugehören.
Das Kind (wie jeder Mensch) trägt das gesamte Familiensystem in sich und spielt eine besondere Rolle im Ganzen des Systems.
12. Das Kind "glaubt" an Wertschätzung, an Vertrauen, an Verständnis und Achtung unter den Familien-Mitgliedern. (Es bezieht eine evtl. vorhandene Verachtung der Eltern gegenüber einer anderen Person unter Umständen auf sich).
Es engagiert sich u.U. für Ausgegrenzte, Vergessene, Verachtete, Sündenböcke in der Verwandtschaft, indem es die eigene Seele diesen Menschen gegenüber öffnet und so deren Energien (deren Probleme und Charakterzüge) übernimmt:
dies führt zu unbewusster Identifikation (Vergegenwärtigung des anderen durch Nachahmung, d.h. durch "unbewusste Liebe").
Auch wenn der Vater oder die Mutter den Partner oder ein eigenes Elternteil verachtet oder nicht kennt, ist das Kind belastet, weil es alle lieben will (dazugehören lassen will).
13. Das Kind glaubt den Eltern:
Eine Abwertung des Kindes durch die Eltern bewirkt eine Selbstabwertung beim Kind:
"Aus dir wird nichts": Solche Aussagen wirken wie ein Fluch. Die unbewusste Liebe des Kindes zu den Eltern wirkt nach dem Prinzip: "Ihr sollt Recht behalten":
Deshalb können Versagen, Selbstblockade, Selbstbestrafung, Minderwertigkeitsgefühle später beim Kind die Folge sein.
14. Das Kind liebt die Eltern immer - bis zur Selbst-Aufgabe.
Problematische Verhaltensweisen sind oft unbewusste Versuche eines Kindes, die Eltern auf einen heilsamen Weg zu bringen.
Je mehr ungelöste seelische Probleme die Eltern in sich tragen, desto größer ist die Gefahr, dass das Kind auf die Entwicklung des eigenen Ichs verzichtet, um den Eltern seelisch beizustehen.
15. Das Kind trägt die Art der Partner-Beziehung der Eltern in sich:
Partnerschaftlichkeit (ein Original sein dürfen und geachtet sein) oder Herrschaft (Bevormundung, Verachtung, "Besitzverhältnis").
Mögliche Folge: Suchtverhalten des Kindes aus unbewusster Liebe zu dem unterwürfigen Eltern-teil. Bei Suchtverhalten ist der Anteil an unbewusster Liebe und Solidarität mit dem abgewerteten Elternteil zu achten.
16. Das Fehlverhalten von Kindern ist oft ein Symptom, um etwas Wichtiges aufzudecken:
Z.B. dass es einem Elternteil noch nicht gelungen ist, das Ganze der eigenen Lebensgeschichte anzunehmen und dazu zu stehen.
Oder wenn ein Elternteil einen nahe stehenden Verstorbenen noch nicht verabschieden und seinen Tod noch nicht achten konnte.
17. Kinder brauchen schon als Säuglinge die Unterscheidung vom "inneren Kind" der Eltern.
Eltern sind in Gefahr, seelische Schmerzen aus der eigenen Kindheit an ihrem Neugeborenen trösten zu wollen, sie verwechseln das eigene Kindsein mit dem geborenen Kind und achten dadurch dessen Originalität und Andersartigkeit nicht.
Kinder sind oft die Projektionsfläche für eine schmerzhafte Kindergeschichte aus der Kindheit der Eltern.
Versöhnungsarbeit der Eltern mit ihrer eigenen Kindheit entlastet das geborene Kind.
18. Das Kind kommt in eine Welt, die Gefühle bewertet und zum Teil verbietet:
Die Kinder geraten dadurch in eine seelische Ausweglosigkeit, sie glauben, sich verstecken zu müssen; beginnen, sich innerlich abzulehnen, innerlich etwas von sich abzuspalten.
Aber: Alle Gefühle sind "Organe der Seele". Sie enthalten Botschaften und wertvolle Energien und wollen ernst genommen und verstanden werden.
19. Das Kind kommt in eine Welt, durch die es seelisch überfordert und verletzt werden wird:
eine spätere Aufarbeitung der Kindheit durch den Erwachsenen ist eine natürliche seelische "Hausaufgabe".
20. Das Kind vergöttert die Eltern. Aber es kann die "vollkommenen Eltern" nicht ertragen.
Von den Eltern ist Ehrlichkeit und Selbstkritik verlangt, eine realistische Sicht der eigenen Licht- und Schattenseiten: Der seelisch gesunde Mensch hat eine gute Beziehung zur eigenen Dummheit und ist bereit dazuzulernen.
21. Kinder möchten von Mutter und Vater körperlich und seelisch wahrgenommen werden, wollen erleben dürfen, dass sich beide für sein Dasein und später für seine Erlebnisse interessieren.
22. Kinder leiden, wenn sich Großeltern in das Leben der Familie besserwisserisch einmischen oder wenn z.B. die Mutter mit den eigenen Eltern mehr Austausch pflegt als mit ihrem Ehemann. Wenn die Eltern zu den eigenen Eltern zur rechten Zeit auch NEIN sagen können, kann ihr Kind eine gesunde "seelische Haut" entwickeln.
23. Jedes Kind möchte ein Original sein dürfen, nicht ein Ersatz für ein anderes Kind, nicht nur ein Trostpflaster auf einer seelischen Wunde von Mama oder Papa, nicht ein Ersatz für das, was Papa oder Mama in der eigenen Kindheit vermisst haben oder nicht zu verwirklichen geschafft haben.

(www.hanglberger-manfred.de)

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