6.9.17
Lob des Alltags
Rainer Bucher, katholischer Theologe, setzt sich mit dem Gewohnten und dem Besonderen des Alltags auseinander.
Der Segen des Alltags besteht in einer recht schlichten Tatsache: Es passiert nichts wirklich Neues. Man wird nicht böse überrascht, man kann sicher sein, dass man den Abend leidlich gut erreichen wird. So wie man ihn gestern leidlich gut erreicht hat. Die Strategien und Mechanismen, die man sich erarbeitet hat, um das Leben gut zu bestehen, sie werden funktionieren. Der Segen des Alltags liegt in der Erfahrung von Souveränität. Es ist keine großartige und prächtige Souveränität, die man da erfährt, eher eine kleine und bescheidene, aber es ist Souveränität. Im Alltag bleiben wir die Herrn der Lage.
Der Fluch des Alltags besteht ebenfalls in einer recht schlichten Tatsache: Es passiert nichts wirklich Neues. Man wird nicht überrascht. Der Tageslauf unterscheidet sich nicht wesentlich von jenem gestern und morgen. Man kommt zwar zurecht, doch es bleiben einige nagende Fragen: Hätte ich an diesem Tag nicht auch Anderes, Spannenderes, Schöneres, Aufregenderes tun und erleben können?
Wieder ist ein Tag von den endlichen Tagen des Lebens vergangen und nichts wirklich Neues ist geschehen. Der Fluch des Alltags ist: Er konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit, mit dem Zerfließen des Lebens zwischen den Fingern, bis die Sanduhr ausgelaufen ist und vielleicht gar nicht so viel gewesen war, außer eben Alltag.
Ö1