2.1.19

 

Das Parlament der Unsichtbaren

Der Eintritt ein Gedicht. Der Zugang ein Lied. Der Türöffner eine Kurzgeschichte. Heute wird zum Treff in die Diakonie-Notstelle s`Häferl geladen, dem Wirtshaus für Leute, die es eng haben und am Limit leben.

Alle sind sie sonst als unbrauchbar abgestempelt worden, vom Arbeitsmarkt als chancenlos tituliert, in der Öffentlichkeit unsichtbar gemacht. Doch hier im Häferl wird das wie zu einer "Inventur der verborgenen Talente", all die entwerteten Fähigkeiten und Kenntnisse von Menschen werden gehoben, sichtbar und hörbar. Sie erzählen Geschichten, von denen keiner erzählt. Sie machen einen Alltag sichtbar, der nicht im Licht steht. Sie verstärken die Stimmen, die gewöhnlich überhört werden.

"Nicht wahrgenommen" werden bedeutet nämlich auch "ausgeschlossen sein". Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon argumentiert, dass heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verbunden ist mit dem Wunsch nach Anerkennung. Und genau hier müsse eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibt, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. In Paris gründete Rosanvallon ein "Parlament der Unsichtbaren", das dazu dient, all die Geschichten von Menschen zu erzählen, die sonst im Dunkeln geblieben wären. Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden.
Martin Schenk über Alltagsgeschichten
Ö1

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