4.2.16

 

Islamismus - Ideologie von weltbedrohendem Ausmass

Die Gefährlichkeit des Islamismus wurde vom Westen jahrzehntelang unterschätzt. Doch mit Gewalt bekämpft man keine Ideologie.
Der Islamismus bedroht uns nicht nur in der Gegenwart, er hat auch seine Geschichte. Seine Herkunft und Entwicklung lassen erkennen, wie er zustande kam, was ihn antrieb und was ihn weiterbewegt.
Erst heute, wo das "Kalifat" des „Islamischen Staats“ (IS) weltweit Schösslinge hervorbringt und Ableger schafft, wird uns klar, dass es sich um eine Ideologie von weltbedrohendem Ausmass handelt.
Nicht einmal Nine-eleven, die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York und Washington, haben bewirkt, dass diese Ideologie als Ideologie ernst genommen wurde. Man sprach damals von Terrorismus und vom Krieg gegen den Terrorismus, der geführt werden müsse. Doch womit dieser Terrorismus hervorgerufen wurde, fragte man nicht. Es gab nur die unbestimmte und in ihrer Vagheit sachlich falsche Vermutung "der Islam" stecke dahinter. Eine Vermutung, die in der Folge oftmals und zu recht dementiert wurde: "Der Islam" war es nicht.
Seit 1928 bekannt
Die Ideologie, die diesen Terror hervorruft, war seit langem bekannt. Sie war seit 1928 mit der Gründung der Muslimbrüder offen aufgetreten. Jedermann konnte sich über sie informieren. Diese Ideologie hatte im Verlauf der Jahrzehnte viele unterschiedliche Richtungen und Branchen entwickelt, die man alle unter dem Begriff "Islamismus" zusammenfassen kann.
Dieser Begriff meint „ideologisierte Formen der Religion des Islams“. Die islamistischen Ideologien in allen Varianten nehmen Versatzstücke aus dem weiten Meer der religiösen Grundschriften des Islams, des Korans und Hadiths (Hadith ist die sakrale Überlieferung von Tun und Sagen des Propheten) und stellen sie derart zusammen, dass sie als Stützen ihrer ideologischen Gebilde dienen können. Diese Konstrukte werden von den Ideologen des Islamismus so aufgebaut, dass sie Weisungen und Vorschriften ergeben, welche sehr viel unflexibler und eindeutiger sind als jene, die aus der Gesamtheit der komplexen religiösen Überlieferung hervorgehen, so wie sie die Fachgelehrten (Theologen) des Islams über die Jahrhunderte hinweg gehandhabt haben und weiter handhaben.
"Krieg der Ideen" oder "Krieg der Waffen"
Die Theologen suchten Gottes Willen aus den sakralen Grundlagen der Religion zu erschliessen. Die Ideologen hingegen suchen ein Heils- und Erfolgsrezept zu akkreditieren, das ihren Wünschen und Hoffnungen entspricht und von dem sie annehmen, dass es auch ihre Gefolgsleute ansprechen wird. Die zu dem Heilsrezept passenden islamischen Versatzstücke aus den Heiligen Schriften dienen ihnen dazu, ihr ideologisches Narrativ islamisch zu verbrämen und ihren Heilsverheissungen dadurch Prestige zu verschaffen.
Da die Islamisten gegen all jene kämpfen wollen, die ihren Ideen nicht folgen wollen, muss ihr Narrativ ein kriegerisches sein. Es kann sich aber je nach Variante des Islamismus um "Krieg der Ideen" handeln oder um "Krieg mit den Waffen".
Warheitsanspruch
Immer läuft die Ideologisierung des Islams darauf hinaus, dass eine Innengruppe gebildet wird, die sich allen anderen, den Aussengruppen, entgegenstellt. Jede Ideologie enthält einen Wahrheitsanspruch, der andere Ideengebäude zurückweist. Dieser Anspruch kann schroffer durchgesetzt oder milder gehandhabt werden, je nach dem Gutbefinden der Ideologen.
Im Falle des Islamismus in all seinen Varianten handelt es sich um eine politische Ideologie. Ihr Kern liegt immer darin, dass sie "islamische Staaten" oder einen umfassenden "Islamischen Staat" anstrebt. Einen „Islamischen Staat“ definiert sie als einen, der nach der Scharia regiert wird. Da die Scharia aus einem gewaltigen Korpus von nicht  kodifizierten Rechtsvorstellungen besteht, die sich als Gottesrecht definieren, gibt es auch in ihr die gleiche Auswahlmöglichkeit für die islamistischen Ideologen wie im Falle von Koran und Hadith. Sie können die ihnen passende Aussage herauspicken und alle anderen übergehen. Damit gewähren sie sich die Auslegungshoheit, die sie verwenden, um ihre Wünsche und Anliegen durchzusetzen und sie zugleich zum "Willen Gottes" zu erklären.
Verkanntes Potential des Islamismus
Die europäische Welt müsste eigentlich in der Lage sein, Ideologien zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Sie hat soeben eine Zeit hinter sich gebracht, die zu recht als das Zeitalter der Ideologien beschrieben wurde: Imperialismus, Kapitalismus und Kommunismus gegenüber Nationalismen unterschiedlicher Färbung und Intensität, einschliesslich des Nazismus, sowie Liberalismus in unterschiedlichen Ausprägungen haben unsere jüngste Geschichte bestimmt.
Doch die Potenziale des Islamismus entgingen den Beobachtern aus dem Westen. Seine frühen Manifestationen erschienen ihnen als blosse Rückständigkeit kolonialer oder eben erst aus dem Kolonialismus entlassener Völker, die sich noch zu "entwickeln" hätten. Der dort auftretende Islamismus galt als fanatisch und rückständig, der jedoch letzten Endes durch den unvermeidlich bevorstehenden Fortschritt dem Untergang geweiht sei.








Vernachlässigte Unterschicht
Eine relativ dünne Oberschicht erhielt Zugang zur westlich dominierten Weltkultur. Dies waren Schichten, welche nun die Möglichkeiten hatten, sich am Import westlicher Güter, Ideen und Institutionen zu beteiligen. Sie wurden dadurch in vielen Fällen zu wohlhabenden und Macht ausübenden Oberschichten. Sie wurden auch 'par excellence' die Gesprächspartner der westlichen Mächte, oftmals so sehr, dass die Existenz gewaltiger Unterschichten, die in ihrer angestammten Kultur "hängen blieben", als irrelevant hingenommen wurde.
Von Paris, London und Washington aus gesehen, zählten diese Unterschichten nicht wirklich mit. Sie waren ja "die Vergangenheit", dazu bestimmt, vom Fortschritt überholt zu werden.
Eine vergleichbare Sicht übernahmen in vielen Fällen die westlich akkulturierten Oberschichten in den Ländern des Islams, wenn sie auf ihre eigenen Unterschichten blickten. Diese Zurückgelassenen zahlenmässig immensen Mehrheiten in ihren städtischen und ländlichen Elendsquartieren verloren in ihrer Armut Teile ihrer angestammten eigenen Kultur.
Bereicherung auf Kosten der Armen
In Ägypten wuchs das Nationaleinkommen in den dreissig Jahren der Herrschaft Mubaraks um 6 bis 10 Prozent jährlich. Doch die Zahl der Ägypter, die unter der Armutsgrenze leben mussten, wuchs in der gleichen Zeit von 13 auf 24 Prozent.
Das heisst, grob geschätzt: die Bevölkerung wuchs um rund 70 Prozent, das Bruttosozialprodukt um rund 240 Prozent. Das verbleibende Netto-Wachstum von 170 Prozent wurde so verteilt, dass die Zahl der Armen sich beinahe verdoppelte. Was bedeuten muss, dass das Netto-Wachstum alleine den Oberschichten zugute kam und darüber hinaus die untersten Schichten zum Bereicherung der Oberen beitragen mussten.
Verwaiste, ausgeschlossene Arme
Über all diese 30 Jahre hin diente die ägyptische Geheimpolizei dazu, genügend Druck auf die ägyptischen Unterschichten auszuüben, dass diese sich still verhielten. Die wachsende Armut bedeutete auch zunehmenden Verlust durch Verarmung der eigenen Kultur. Die Reichen wandten sich mehr und mehr der "globalisierten" Kultur zu, die sie mitkonsumierten. Die Armen, die nicht konsumieren konnten, blieben verwaist und ausgeschlossen.
Das Auseinanderleben der unterbemittelten und der überbemittelten Schichten führte zu Aussichtslosigkeit und Identitätskrisen bei der grossen Mehrheit auf dem unteren Drittel der in ihren untersten Teilen sehr breiten sozialen Pyramide. Das Ganze schwappte über mit den Grossdemonstrationen gegen "das Regime" im Jahr 2011, ohne jedoch zu einer wirklichen Veränderung der sozialen Verhältnisse zu führen.
Islamismus gegen Hoffnungslosigkeit
Deshalb fallen die Verheissungen der islamistischen Ideologie auf fruchtbaren Boden. Die Ideologen finden ihr Publikum bei Personen und Gruppen, die ihre gegenwärtige Lage als ungerecht und gleichzeitig als hoffnungslos empfinden. Die Ideologie verschafft ihnen Zugehörigkeit und Aussichten, Orientierung, wo es zuvor nur Hoffnungslosigkeit gab.
Die islamistische Ideologie erklärt sich als "islamisch" und brandmarkt alle ihr nicht Angehörigen als "unislamisch". Dadurch spricht sie den wichtigsten überlebenden Teil der erschütterten Identität von jenen an, die nur noch wenige andere Identitätsanker besitzen als ihre Zugehörigkeit zur Religion des Islams.

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