8.9.16

 

Das Herz spricht zum Herzen: Auf den Spuren von John Henry Kardinal Newman

Im Frühjahr 2009 wurde der englische 'Kirchenvater' John Henry Kardinal Newman selig gesprochen. Sein intensives Forschen und Suchen nach der Wahrheit führte den ursprünglich anglikanischen Theologen und Professor an der Oxford Universität schließlich zur katholischen Kirche. Vielen Menschen wurde er zu einer Hilfe und viele seiner Aussagen, wie etwa die über das Gewissen oder die christliche Bildung, sind heute aktueller denn je. Obwohl sein Genie zu seiner Zeit vor allem in der katholischen Kirche nicht genügend erkannt wurde, ist er heute eine Fundgrube von Antworten auf viele Fragen der Ökumene und des gegenseitigen Miteinander der christlichen Konfessionen geworden. Auch in der anglikanischen Kirche wird er sehr verehrt.

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Bibliographie

GEISSLER H., Licht der Hoffnung

Papst Benedikt XVI. schreibt in seiner Enzyklika Spe salvi: „Menschliches Leben bedeutet Unterwegssein. Zu welchem Ziel? Wie finden wir die Straße des Lebens? Es scheint wie eine Fahrt auf dem oft dunklen und stürmischen Meer der Geschichte, in der wir Ausschau halten nach den Gestirnen, die uns den Weg zeigen. Die wahren Sternbilder unseres Lebens sind die Menschen, die recht zu leben wussten. Sie sind Lichter der Hoffnung. Gewiss, Jesus Christus ist das Licht selber, die Sonne, die über allen Dunkelheiten der Geschichte aufgegangen ist. Aber wir brauchen, um zu ihm zu finden, auch die nahen Lichter – die Menschen, die Licht von seinem Licht schenken und so Orientierung bieten auf unserer Fahrt“ (Nr. 49).

Ein solches nahes Licht der Hoffnung ist John Henry Newman, der am 21. Februar 1801 in London geboren wurde. Newmans Leben (1801–1890) war gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Schwierigkeiten und Leiden. Nach einem langen schmerzvollen Ringen erkannte er, dass seine geliebte anglikanische Gemeinschaft nicht das volle Erbe des Urchristentums bewahrt hatte, und konvertierte zur katholischen Kirche (1845). Als Katholik war sein Weg nicht weniger mit Dornen übersät: Oftmals wurde er nicht verstanden, viele seiner genialen Pläne scheiterten an der fehlenden Unterstützung durch die Bischöfe. Erst als Papst Leo XIII. ihn zum Kardinal ernannte (1879), kam seine Bedeutung für England und weit darüber hinaus zur Geltung. Newman könnte bald seliggesprochen werden, wenn der zurzeit in Rom laufende Wunderprozess positiv ausfällt.

Auch und gerade in seinen Prüfungen war Newman ein Mann der Zuversicht und ein Mahner zur Hoffnung. Lassen wir uns von einigen seiner Worte inspirieren, um in einer Zeit, in der Entmutigung, Depression und Angst immer weitere Kreise ziehen, voll Hoffnung in die Zukunft zu gehen.

„Dies ist die Definition, möchte ich sagen, jedes religiösen Menschen, der von Christus nichts weiß: Er hält Ausschau“ (DP X 85). Die innere Stimme des Gewissens, die nach Newman das Urprinzip der Religion ausmacht, lockt den Menschen, das Rechte zu tun und Gott zu suchen. Doch diese Stimme ist oft leise und undeutlich. Zudem klagt sie Fehler und Sünden an, ohne davon befreien zu können. So treibt sie den Menschen an, Ausschau zu halten nach einem klaren und sicheren Halt und nach dem Frieden des Herzens. Sie weckt in ihm eine stille Sehnsucht, die nach Newman erst durch das Kommen des Sohnes Gottes ganz erfüllt wird. Jesus Christus ist nämlich die Wahrheit und der Friede in Person. „Jahr um Jahr gleitet lautlos dahin; Christi Ankunft nähert sich immer mehr. Dass wir uns doch, je näher er der Erde kommt, umso mehr dem Himmel näherten“ (DP IV 370). Wer den Erlöser in sein Herz und in sein Leben aufgenommen hat, dessen tiefstes Verlangen ist zwar in gewisser Weise schon erfüllt, aber noch keineswegs vollendet.
Säkularisierung menschlicher Hoffnung beklagt

Der Christ ist ein Mensch, der Ausschau hält nach dem, was er im Glauben schon zu erkennen vermag. In diesem Leben besitzt er das Heil noch nicht in seiner Fülle, sondern lebt in der Hoffnung. Dieses sehnsüchtige Ausschauen nach dem Herrn und der Fülle des Lebens entspricht dem urmenschlichen Verlangen nach Glück. Es verleiht dem Dasein des Christen eine eigene Dynamik und Spannkraft.
„Unser wirkliches und wahres Glück besteht nicht im Wissen, Begehren oder Erstreben, sondern im Lieben, Hoffen, Frohsein, Bewundern, Verehren, Anbeten. Unser wirkliches und wahres Glück liegt im Besitz jener Dinge, in denen unser Herz Ruhe und Frieden finden kann“ (DP V 355). Viele Menschen suchen die Erfüllung ihrer Hoffnung in den Dingen dieser Welt. Sie eilen von einem Gut zum anderen und finden doch kein bleibendes Glück und keinen echten Frieden. Alle innerweltlichen Hoffnungen sind letztlich vergänglich, wie die Welt selbst vergänglich ist. Spätestens wenn der Mensch aus dieser Welt scheidet, brechen die irdischen Hoffnungen zusammen. Immer wieder beklagte Newman die Säkularisierung der christlichen Hoffnung. Er warnte unaufhörlich davor, die sichtbare Welt der unsichtbaren vorzuziehen und das Herz in ungeordneter Weise an Vergängliches zu hängen.

„Nach dem Fieber dieses Lebens, nach Ermüdung und Krankheit, Kampf und Mutlosigkeit, Schwäche und Verdruss, nach Ringen und Versagen, Ringen und Gelingen, nach all dem Wechsel und Hoffen dieses mühseligen, unheilbringenden Zustandes kommt endlich der Tod, endlich der weiße Thron Gottes, endlich die selige Anschauung. Nach der Ruhelosigkeit kommt Ruhe, Friede, Freude; unser ewiger Anteil, wenn wir seiner würdig sind; der Anblick der gebenedeiten Drei, des einen Heiligen“ (DP VI 398). Das letzte und eigentliche Ziel der christlichen Hoffnung ist der Gott der Liebe, der dreifaltige Gott. Nach ihm streckt sich der Hoffende aus, denn er allein kann seinem Herzen jenen Frieden schenken, den er im Innersten ersehnt – nicht erst in der kommenden, sondern bereits in dieser Welt.

Wie das folgende Gebet zeigt, hatte Newman selbst dieses Ziel lebendig vor Augen: „O mein Gott, ich übergebe mich ganz in deine Hände. Wohl oder Wehe, Freude oder Schmerz, Freunde oder Verlassenheit, Ehre oder Demütigung, guter oder übler Ruf, Trost oder Trostlosigkeit. Deine Gegenwart oder das Verbergen deines Angesichtes, alles ist gut, wenn es von dir kommt. Du bist Weisheit und Liebe – was kann ich mehr wollen? Du hast mich nach deinem Ratschluss geführt, und mit Herrlichkeit hast du mich aufgenommen. Was habe ich im Himmel, und was suche ich auf Erden außer dir? Mein Fleisch und mein Herz versagen; aber Gott ist der Gott meines Herzens und mein Anteil auf ewig.“

Ist die Hoffnung des Christen nicht eine Utopie? Ist der Mensch angesichts seiner Kleinheit und Sündhaftigkeit überhaupt fähig, nach einem so hohen, ihn gänzlich übersteigenden Gut auszuschauen? In der Predigt „Die Allmacht Gottes – der Grund für Glaube und Hoffnung“ antwortet Newman auf diese Frage mit dem Hinweis, dass Gott „nicht nur allmächtig, sondern auch allbarmherzig ist… Die Gegenwart unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus spornt uns ebenso sehr zur Hoffnung an wie zum Glauben, weil schon sein Name Jesus so viel wie Heiland bedeutet und weil er voll Liebe, Sanftmut und Güte war, als er auf Erden weilte“. Die Hoffnung wurzelt im Glauben an Gottes Treue und Barmherzigkeit. Sie ist nicht eigene Leistung, sondern Geschenk. Der Erlöser weckt im Getauften mit dem Glauben auch die Hoffnung. Freilich muss der Einzelne sich vertrauensvoll dem Herrn überantworten.

Wie Newman ausführt, geht es den Christen heute oft so wie damals den Aposteln, die im Boot sitzen, das vom tobenden Sturm hin- und hergeworfen wird. Sie fürchten, dass Christus „schlafe“ – und bekommen Angst, verlieren den Mut, sehen keinen Ausweg mehr. „Was seid ihr so furchtsam?“, ruft der Herr seinen Jüngern zu. Newman aktualisiert diesen Ruf: „Ihr solltet Hoffnung, ihr solltet Vertrauen haben, euer Herz sollte sich auf mich verlassen … Der Sturm kann euch nicht schaden, wenn ich bei euch bin. Gibt es für euch einen besseren Platz als den unter meinem Schutz? Zweifelt ihr an meiner Macht oder meinem Willen, glaubt ihr, dass ich euch vergesse, weil ich im Schiff schlafe, oder dass ich unfähig bin, euch zu helfen, außer ich bin wach? Weswegen zweifelt ihr? Weswegen fürchtet ihr euch? Bin ich nicht schon so lange bei euch, und noch traut ihr mir nicht und könnt nicht an meiner Seite im Frieden und in Ruhe verharren?“ Die christliche Hoffnung übersteigt alle irdischen Wünsche und Ideale, alles rein menschliche Können und Wollen. Sie hat in Jesus Christus ihren sicheren Anker und ihr verlässliches Fundament. „Ihr schaut auf und seht gleichsam einen großen Berg, den ihr besteigen sollt; da werdet ihr sagen: Wie werde ich da wohl einen Weg finden können über diesen Berg von Hindernissen hinweg?… Sprecht nicht so, meine Brüder, blickt auf in Hoffnung, vertraut auf den, der euch vorwärts führt… Er wird euch Schritt für Schritt vorwärts führen, wie er manchen vor euch geführt hat. Er wird das Krumme gerade und das Raue eben machen. Er wird den Strom wenden und die Flüsse vertrocknen lassen, die euch den Weg verlegen“ (DP XI 242f.).

Der hoffende Ausblick auf das große Ziel hält den Christen in keiner Weise von seinen irdischen Pflichten ab. Im Gegenteil: Die Hoffnung spornt ihn an, seine Verantwortung im Hier und Heute mit Eifer zu erfüllen und sich für die Brüder und Schwestern mit Hingabe einzusetzen. Der Hoffende sucht in allen und in allem die Spuren des Herrn. Er lebt in großer Wachsamkeit.

„Wir sollen nicht einfach nur glauben, sondern wachen; nicht einfach lieben, sondern wachen; nicht einfach gehorchen, sondern wachen; wachen wozu? Auf jenes große Ereignis hin: die Ankunft Christi“ (DP IV 359). Newman meint mit der Ankunft Christi hier nicht bloß das Kommen des Herrn am Ende der Tage, sondern sein Kommen in den Ereignissen des alltäglichen Lebens. „Der ist wach für Christus, der ein empfindsames, sehnsüchtiges und fühlendes Herz besitzt; der mit frischer Kraft, mit scharfsichtigem Eifer darauf bedacht ist, ihn zu suchen und zu ehren; der in allem, was geschieht, nach ihm ausschaut und nicht überrascht, nicht allzu erregt oder überwältigt wäre, wenn er entdeckte, dass er plötzlich käme“ (DP IV 360f.).

Neben der Wachsamkeit gehört für Newman vor allem das Gebet zum Vollzug christlicher Hoffnung. Die Hoffnung wird im Gebet konkret. Das Gebet wiederum stärkt und festigt die Hoffnung inmitten aller Freuden und Sorgen des Lebens. „So durchbricht der wahre Christ den Schleier dieser Welt und blickt in die nächste. Er pflegt Umgang mit ihr; er wendet sich an Gott, wie ein Kind sich an seine Eltern wenden mag, mit dem gleichen klaren Blick und dem gleichen ungetrübten Vertrauen; wohl in tiefer Ehrfurcht und frommer Furcht und Scheu, jedoch mit Gewissheit und Bestimmtheit, wie der heilige Paulus sagt: ,Ich weiß, wem ich glaube‘ (2 Tim 1, 12)“ (DP VII 209).

Die Tugend der Hoffnung lässt den Christen die irdischen Pflichten mit dem Blick auf die bleibenden Güter erfüllen. Der Glaube lässt ihn diese Güter erkennen. Die Hoffnung spornt ihn an, sich mit aller Kraft danach auszustrecken. Die Hoffnung verleiht dem Leben einen „adventlichen“ Charakter, denn es ist letztlich ein großes „Harren auf Christus“. Darum betet Newman: „Ich darf ruhen in deinen Armen und schlafen an deiner Brust. Gib mir nur wahre Treue zu dir, vermehre sie täglich! Sie ist das einigende Band zwischen dir und mir und für mein Herz und Gewissen das Pfand, dass du, höchster Gott, mich, das ärmste deiner Kinder, nie verlassen wirst.“

Der Autor ist Direktor des Internationalen Zentrums der Newman-Freunde in Rom


GEISSLER H., “Zehntausend Schwierigkeiten machen keinen Zweifel”. Der Glaubensweg von John Henry Newman und sein Weg von der anglikanischen in die katholische Kirche.


„Zehntausend Schwierigkeiten machen keinen Zweifel”: Dieses Wort hat John Henry Newman nicht nur geschrieben, er hat es auch gelebt. Auf seinem Glaubensweg war er mit unzähligen Schwierigkeiten und Prüfungen konfrontiert. Er konnte sie bestehen, weil Gott in seinem Herzen ein Licht entzündet hatte. Dieses „milde Licht” führte ihn voran und leuchtete ihm auch in dunklen Zeiten.

1. Der Bekehrte
John Henry Newman wurde am 21. Februar 1801 in London geboren. Er wuchs im Haus seiner anglikanischen Eltern auf. Die Mutter machte ihn und seine fünf Geschwister schon früh mit der Bibel vertraut. Das Maßgebliche war dabei aber nicht der Glaube, sondern das Gefühl. Darum konnte Newman später sagen, er habe als Kind „keine eigentlichen religiösen Überzeugungen” gehabt. Im Alter von sieben Jahren wurde er in eine Privatschule geschickt. Und es zeigte sich bald, dass er nicht nur ein eifriger Schüler war, sondern auch Begabung hatte für Musik – er lernte Geige spielen -, für Organisation – er wurde Vorsitzender eines Schülerklubs – und für Journalistik – er gab eine Schülerzeitschrift mit dem Titel „Der Spion” heraus.
In religiöser Hinsicht hatte der jugendliche Newman aber kein Fundament. In seinem Tagebuch schrieb er über diese Zeit: „Ich erinnere mich… des Gedankens, ich möchte wohl tugendhaft sein, aber nicht religiös. Es lag etwas in der Vorstellung des letzteren, das ich nicht mochte. Auch hatte ich nicht erkannt, was es für einen Sinn hätte, Gott zu lieben”. Die große Versuchung des jungen Newman bestand also darin, ein guter Mensch zu werden, aber Gott und damit die Quelle alles Guten zu verlieren. Klopft diese Versuchung nicht auch heute an die Tür vieler Menschen, vielleicht an unser Herz?
Inmitten dieser dunklen Stürme kam es zur ersten Wende im Leben Newmans. Er selbst nannte diese Wende oft seine „erste Bekehrung”. „Als ich 15 Jahre alt war”, so schreibt er, „ging in meinem Denken eine große Änderung vor sich. Ich kam unter den Einfluss eines bestimmten Glaubensbekenntnisses, und mein Geist nahm dogmatische Eindrücke in sich auf, die durch Gottes Güte nie mehr ausgelöscht und getrübt wurden”.
Wie kam es zu dieser großen Änderung im Denken des 15-Jährigen? Die Familie Newman war unerwartet in eine finanzielle Notlage geraten, da die Bank des Vaters bankrott ging. Deshalb musste der erkrankte John Henry während der Sommerferien 1816 im Internat der Schule bleiben. In dieser Zeit las er auf Anregung eines Lehrers ein Buch über „Die Macht der Wahrheit”. Dieses Buches traf den Studenten ins Herz. Er fand zu einem lebendigen Glauben an Gott und erkannte zugleich die Vergänglichkeit der irdischen Dinge. Im Geist der heiligen Augustinus schreibt er darüber: „Ich… ließ mich in dem Gedanken Ruhe finden, dass es zwei und nur zwei Wesen gebe, die absolut und von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer”.
Seit dieser ersten Bekehrung hatte Newmans Glaube ein festes Fundament: „Von meinem fünfzehnten Lebensjahr an”, so schreibt er, „war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion; eine andere Religion kenne ich nicht…; Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk. Man könnte ebenso gut von Kindesliebe ohne Eltern sprechen, als von Frömmigkeit ohne die Tatsache eines höchsten Wesens”. Die erste Bekehrung führte Newman zu dem hin, der das wahre Licht ist. Und auf diese erste Bekehrung folgten viele weitere Schritte der Läuterung und der Reifung, die dieses Licht immer mehr zum Strahlen brachten. Wer zum Licht kommen will, muss bereit sein, sich zu bekehren. Er muss seine Ich-Welt hinter sich lassen und sich öffnen für Gott. Auch heute ist die Bekehrung der Weg zum Licht.


2. Der Seelsorger

Erst 16 Jahre alt, begann Newman das Universitätsstudium in Oxford. Er widmete sich intensiv seinen Aufgaben als Student und versuchte treu jenem inneren Licht zu folgen, das er als die Mitte seines Lebens erkannt hatte. Bereits nach drei Jahren machte er die Abschlussprüfung und wurde kurz darauf Professor.
In dieser Zeit entschloss er sich, sein Leben ganz in den Dienst Gottes und der Menschen zu stellen. Als er 1824 zum anglikanischen Diakon geweiht wurde, notierte er in seinem Tagebuch die Worte: „Ich trage Verantwortung für die Seelen bis zum Tag meines Todes”. Nach seiner ersten Bekehrung hatte Newman noch gewisse individualistische Züge an sich: „ich selbst und mein Schöpfer”, so hatte er geschrieben. Nun kam die Dimension der Verantwortung für die anderen hinzu. Er erkannte, dass er dem Licht Gottes nur treu bleiben konnte, wenn er bereit war, dieses Licht anderen weiterzugeben, ein Diener der Menschen zu sein. Besonders wichtig war ihm dabei der persönliche Kontakt. Als Diakon in einer ärmlichen Pfarrei in Oxford begann er deshalb neben der traditionellen Predigttätigkeit mit Hausbesuchen – damals eine ganz neue und ungewohnte Art der Seelsorge.
Kurze Zeit später wurde Newman neben seiner akademischen Tätigkeit auch Pfarrer der Universität Oxford. Jeden Sonntag Abend hielt er eine Predigt, um die Gewissen der Studenten und auch der Professoren wach zu rütteln. Er besaß eine große Gabe für die Predigt. Er legte die christlichen Wahrheiten klar dar, er rief zu einem Leben nach den Grundsätzen des Evangeliums auf, er gab dem Wort durch sein Lebenszeugnis innere Autorität.
Newman wollte die Studenten nicht nur in ihrer intellektuellen Ausbildung begleiten. Er war vielmehr darauf bedacht, ihnen auch Wegbegleiter zu sein und sie zu einem Leben nach dem Evangelium anzuspornen. Aus diesem Grund bekam er bald Schwierigkeiten mit seinen liberalen Vorgesetzten. Dabei kann Newman in keiner Weise der Engstirnigkeit bezichtigt werden. Er veranstaltete häufig Abende für Studenten. Er lud zu den Mahlzeiten regelmäßig Freunde und Bekannte ein. Dabei wurde nicht nur über religiöse Themen gesprochen, sondern auch über Literatur, Geschichte, Mathematik und vieles mehr. Hier zeigt sich ein Grundprinzip von Newmans Wirken, das er einmal so formulierte: „Ich möchte, dass der denkende Laie religiös sei und der fromme Geistliche ein denkender Mensch”.
Newman war ein Erzieher durch und durch. Er hatte stets die Gewissen der anderen vor Augen und wusste um seine Verantwortung für die Seelen. Er wollte immer aufbauen, nicht niederreißen. Er bezeugt: „Nichts war mir verhasster, als Zweifel auszustreuen und die Gewissen unnötigerweise zu verwirren”. Newman war ein Vater der Gewissen, dem die Verantwortung für das Heil der Seelen klar vor Augen stand. Er war ein Vollblut-Seelsorger. Er konnte das Licht, das er gefunden hatte, nicht für sich behalten, er musste davon Zeugnis geben. Solche Zeugen des Lichtes braucht die Welt auch heute. Jesus lädt uns ein, „Salz der Erde” und „Licht der Welt” zu sein.

3. Der Wahrheitssucher
Im Sommer 1828 begann Newman die Kirchenväter zu lesen – die großen Heiligen und Theologen der ersten christlichen Jahrhunderte. Diese Lektüre wurde für ihn zum Schlüssel, um die christliche Offenbarung in ihrer Fülle zu entdecken. Die Heilige Schrift hatte er gründlich studiert und große Teile davon auswendig gelernt; nun eröffnete sich ihm auch der Zugang zur Überlieferung, deren besondere Zeugen die Kirchenväter sind. Man kann den Einfluss der Väter auf die religiöse Entwicklung Newmans kaum überschätzen. Er selbst bezeugt später: „Die Väter haben mich katholisch gemacht”.
Bald veröffentliche Newman seine erste große Studie über „Die Arianer des 4. Jahrhunderts” (1832). Doch während er nach der Wahrheit forschte und sich mehr und mehr von den Vätern inspirieren ließ, sah er mit großer Sorge, dass der Einfluss liberaler Strömungen in Oxford und in ganz England wuchs. Diese Erfahrung bewog ihn, zusammen mit anderen Geistlichen die Oxford-Bewegung ins Leben zu rufen (1833). Die Grundüberzeugung dieser Bewegung war, dass England vom Glauben der Alten Kirche abgefallen ist und es einer „zweiten Reformation” bedurfte, um die anglikanische Gemeinschaft im Geist des Urchristentums zu erneuern. Die führenden Männer der Bewegung wirkten vor allem durch eine intensive Predigttätigkeit und die Veröffent-lichung sogenannter Tracts, das waren Flugschriften, die in Oxford und später in vielen anderen Städten verteilt wurden und wie Blitze aus heiterem Himmel einschlugen. Drei Prinzipien leiteten die Bewegung: erstens das dogmatische Prinzip, nach dem der christliche Glaube die Wahrheit ist; zweitens das kirchlich-sakramentale Prinzip, gemäß dem Christus eine sichtbare Kirche mit Sakramenten gestiftet hat; und drittens das anti-römische Prinzip, durch das der Vorwurf des Papalismus abgewehrt werden sollte. Newman selbst schrieb über die katholische Kirche im Tract 20: „Ihre Gemeinschaft ist von der Häresie angesteckt, wir müssen uns davor hüten wie vor der Pest”.
In der Folge bemühte er sich, den Anglikanismus auf festeren Boden zu stellen und entwickelte die Theorie der „Via Media”. Nach dieser Theorie haben die Protestanten Wahrheiten des ursprünglichen Glaubens verworfen, die Katholiken sich durch Zusätze und Irrtümer vom Glauben der Alten Kirche entfernt, die Anglikaner hingegen als „Via Media” das Erbe der Väter treu bewahrt. Bei diesen Studien ließ sich Newman nicht von persönlichen Interessen leiten. Er schreibt: „Mein Wunsch war es, die Wahrheit zu meinem engsten Freund zu haben und keinen anderen Feind als den Irrtum”.
Die Theorie der „Via Media” hatte jedoch einen Haken. Liegt die Wahrheit wirklich immer in der Mitte? Bei der Beschäftigung mit der Alten Kirche erkannte Newman, dass diese Frage mit Nein zu beantworten ist. Zwischen den Arianern und Rom gab es im vierten Jahrhundert eine „Via Media”: die Semi-Arianer. Die Arianer leugneten die Gottheit Jesu. Rom lehrte, dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott ist. Die Semi-Arianer behaupteten, dass Jesus nicht Gott gleich, aber Gott ähnlich ist. Die Wahrheit lag nicht bei den Semi-Arianern, sondern auf der Seite Roms. Die Theorie der „Via Media” brach wie ein Kartenhaus zusammen. Zudem musste Newman erleben, wie sein Tract 90 – ein Versuch, den anglikanischen Glauben katholisch zu interpretieren -, von der Universität Oxford verurteilt und von den anglikanischen Bischöfen zurückgewiesen wurde. So entschloss er sich, zusammen mit einigen Freunden nach Littlemore zu übersiedeln. In diesem kleinen Dorf unweit von Oxford wollte er durch Gebet, Fasten und Studium Klarheit über seine Zukunft finden. Er wusste damals nicht, wohin sein Weg führen würde. Er war aber entschieden, dem Licht der Wahrheit unbedingt zu folgen. Er liebte die Wahrheit. Er führte unzählige Menschen zur Wahrheit – bis heute.

4. Der Gehorsame

Newman war davon überzeugt, dass Gott ihm das nötige Licht schenken werde, wenn er nur geduldig warte, eifrig bete und sich weder vom reinen Gefühl noch von der bloßen Vernunft, sondern vom Gewissen leiten lasse. Während seiner Jahre in Littlemore hielt er sich an den Grundsatz: „Tue, was deine gegenwärtige Ansicht unter dem Gesichtspunkt der Pflicht verlangt, und lass dieses Tun sprechen; sprich durch Taten”. 1843 widerrief er alle Anklagen gegen die römisch-katholische Kirche, die er bis zu diesem Zeitpunkt für eine mit dem Antichrist verbündete Gemeinschaft gehalten hatte. Weiter legte er schweren Herzens seine Aufgaben als Professor und Universitätspfarrer in Oxford nieder. Wie sehr Newman im Gewissen um seine Zukunft rang, geht aus einem Brief hervor, den er damals schrieb: „Die Frage heißt einfach: Kann ich (ganz persönlich, nicht ein anderer, sondern kann ich) in der englischen Kirche selig werden? Könnte ich noch in dieser Nacht ruhig sterben? Ist es eine Todsünde für mich, nicht einer anderen Gemeinschaft beizutreten?”.
Die große Schwierigkeit für Newman bestand darin, ob die „neueren” römischen Lehren – etwa über das Fegefeuer, über Maria, über die Heiligen – den reinen Glauben der Väter entstellten oder nicht. Deshalb entschloss er sich, eine Studie über die Entwicklung der Glaubenslehre (1845) zu verfassen. Das Ergebnis dieser Studie war für seinen weiteren Lebensweg entscheidend. Er berichtet darüber: „Je weiter ich voranschritt, desto mehr klärten sich meine Schwierigkeiten auf, so dass ich aufhörte, von römischen Katholiken zu sprechen und sie ohne Bedenken einfach Katholiken nannte. Ehe ich zu Ende kam, entschloss ich mich zum Übertritt, und das Buch blieb in dem Zustande, in dem es damals war, unvollendet”. Hier sehen wir die innere Konsequenz Newmans: Wenn er etwas in seinem vom Glauben erleuchteten Gewissen erkannte, unternahm er sofort die notwendigen Schritte, ohne sich durch menschliche Ängste davon abbringen zu lassen. Er gehorchte dem Ruf des Gewissens, er gehorchte Gottes Licht.
Seinen engsten Bekannten schrieb er damals einen Brief mit folgendem Inhalt: „Littlemore, 8. Oktober 1845. Liebe(r) … Ich muss dir etwas mitteilen, was dich sehr schmerzen wird, aber ich will es so kurz machen, wie du es dir wünschen würdest. In dieser Nacht schläft P. Dominik, ein Passionist, hier. Er weiß noch nichts von meiner Absicht, aber ich will ihn bitten, mich in die Kirche aufzunehmen, von der ich glaube, dass sie die eine Herde des Erlösers ist. Der Brief wird nicht abgesandt, bevor alles vorbei ist. Dein immer verbundener John Henry Newman”.
Die anglikanische Gemeinschaft zu verlassen, fiel Newman nicht leicht. Er liebte seine Gemeinschaft, er liebte Oxford und seine Aufgaben, er liebte seine Familie und seine Freunde. Aber der Ruf des Gewissens war stärker als alle menschlichen Bindungen. In diesem Ruf erkannte er den Willen Gottes. Seine Konversion ist kein „ökumenischer Unfall”. Er erinnert uns vielmehr daran, dass es bei der Suche nach der Einheit darum geht, dem Licht der Wahrheit in Treue zu folgen. Deshalb ist er eine eminent wichtige Gestalt für die Ökumene.

5. Der Leidende
Nach seiner Aufnahme in die katholische Kirche am 9. Oktober 1845, fast genau in der Mitte seines Lebens, zog Newman nach Rom, wo er ein paar Monate studierte und dann zum katholischen Priester geweiht wurde. In Rom lernte er die Gemeinschaft der Oratorianer kennen. Er trat in diese Gemeinschaft ein und gründete dann in Birmingham das erste englische Oratorium. Bis zu seinem Lebensende weilte er fast immer in Birmingham, wo er eine reiche seelsorgliche Tätigkeit unter den Armen entfaltete, Tausende von Menschen begleitete und seine theologische Tätigkeit fortsetzte. Seine Seele hatte „nach stürmischer Fahrt den sicheren Hafen erreicht”. Etwa zwanzig Jahre nach seiner Konversion schrieb er: „Von der Zeit an, dass ich katholisch wurde, habe ich in vollkommenem Frieden und ungestörter Ruhe gelebt, ohne je von einem einzigen Zweifel heimgesucht zu werden”.
Nach vielen Jahren hatte Newman endlich den inneren Frieden gefunden. Aber die Schwierigkeiten und Prüfungen, die auf ihn einstürmten, wurden nicht weniger. Im Gegenteil: Sie nahmen zu. Viele Anglikaner betrachteten ihn als Verräter und brachen den Kontakt mit ihm ab. In der katholischen Kirche Englands, zu der damals fast ausschließlich arme irische Arbeiter gehörten, wurde er nicht immer richtig verstanden. Innerhalb des Oratoriums kam es bald zu Spannungen, weil einige Mitbrüder mit der Linie Newmans nicht einverstanden waren und schließlich in London ein eigenes Oratorium gründeten. Newman litt sehr unter dieser Spaltung.
1851 wurde Newman von den irischen Bischöfen mit der Gründung einer katholischen Universität in Dublin beauftragt und zum ersten Rektor ernannt. Mit Freude nahm er die Herausforderung an. Er hoffte, nun seine Erfahrungen als Professor in Oxford fruchtbar machen zu können. Er widmete dem Aufbau der Universität viel Kraft und Zeit. Die Vorträge, die er 1852 in Dublin über „Das Wesen der Universität” hielt, gehören zum Besten, das zu diesem Thema geschrieben worden ist. Newman wandte sich gegen einseitige Spezialisierungen auf Kosten der Allgemeinbildung. Echte Bildung hat seiner Ansicht nach immer drei Dimensionen: Wissenschaft, Tugend und Religion. Weil Newman aber auch Laien in den Professorenstab aufnehmen und Christen aus der Welt und für die Welt ausbilden wollte, kam es bald zu Spannungen mit den Bischöfen. Diese brachten letztlich das gesamte Projekt zum Scheitern.
Nach diesem Fehlschlag wurde Newman gebeten, eine neue englische Übersetzung der Bibel anzufertigen. Wiederum ging er mit Eifer und Entschiedenheit ans Werk. Er suchte geeignete Helfer für die Übersetzung und gab für die Arbeit persönlich viel Geld aus. Doch bereits nach einem Jahr musste er zur Kenntnis nehmen, dass die Verantwortlichen das Projekt nicht länger unterstützten, ihn jedoch nicht davon informiert hatten.
1859 wurde an Newman die Bitte herangetragen, die Herausgabe der katholischen Zeitschrift “The Rambler” zu übernehmen. Er sah darin eine Chance, zur Bildung der katholischen Laien beizutragen. Er wollte auch bewusst auf die Stellung der Laien in der Kirche hinweisen und veröffentlichte den Aufsatz „Über das Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre”. In dieser Studie legte er dar, dass die Glaubenslehre in der Kirche durch verschiedene Kanäle weitergegeben wird: durch den Mund der Bischöfe, durch das Zeugnis der Theologen, durch das gläubige Volk, das einen instinktiven Sinn für die Wahrheit besitzt. Newman verwies dabei auf die Auseinandersetzung mit den Arianern im vierten Jahrhundert. Damals waren es vor allem die gläubigen Laien, die das Bekenntnis zur Gottheit Christi bewahrt und überliefert hatten. Newman wollte damit nicht die besondere Stellung der Bischöfe als Lehrer des Glaubens abschwächen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass die Laien als Getaufte eine eigene Sendung in der Kirche haben. Sein Anliegen stieß jedoch in gewissen Kreisen auf Missfallen, so dass er auf Bitten seines Bischofs bereits nach kurzer Zeit die Tätigkeit als Herausgeber des „Rambler” aufgeben musste. Trotz großer Enttäuschung kam er dieser Bitte nach, denn er widersetzte sich nie dem Willen seines Bischofs.
Damit war die Angelegenheit aber noch nicht beendet. Newman wurde sogar, völlig zu Unrecht, der Häresie verdächtigt. Ein einflussreicher Monsignore meinte: „Dr. Newman ist der gefährlichste Mann in England”. Mehrere Jahre lang hatte Newman unter diesen Anschuldigungen zu leiden. Am meisten schmerzte ihn, dass die Vorwürfe aus den eigenen Reihen kamen. Was gab ihm die Kraft, diese Prüfungen und Kreuze zu tragen? Der Blick auf den gekreuzigten Herrn. Die Verbundenheit mit dem Leiden Christi schenkte ihm Gelassenheit, Trost und unerschütterliches Vertrauen. Das gilt auch für uns: Wir müssen Schwierigkeiten und Leiden nicht allein tragen. Wir dürfen sie immer zum Herrn bringen, der gesagt hat: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht” (Mt 11,28-30). Newman hatte unzählige Schwierigkeiten und Lasten zu tragen. Sie wurden ihm aber nicht zum Zweifel an Gott, weil er innig mit Christus verbunden war, weil er treu an der Gemeinschaft mit der Kirche – und vor allem mit dem Nachfolger Petri – festhielt, weil er sich inmitten aller Dunkelheiten nie vom wahren Licht abwandte.

6. Der Kardinal
Zu Beginn des Jahres 1864 schien Newman vergessen. Dies sollte sich aber binnen weniger Monate schlagartig ändern. Ein anglikanischer Professor behauptete in einem Artikel, dass Wahrhaftigkeit nie eine Tugend des katholischen Klerus gewesen sei und Dr. Newman das beste Beispiel dafür biete. Diesen Vorwurf konnte Newman nicht stillschweigend hinnehmen. Es ging hier nämlich nicht allein um seine Person, sondern um den ganzen katholischen Klerus. In wenigen Wochen legte er dar, wie Gottes Licht ihn geführt hatte – bis hin zur Konversion. Dieses Buch, die „Apologia pro vita sua”, wird oft mit den Bekenntnissen des Augustinus verglichen und ist ein echtes Meisterwerk. Nach seiner Veröffentlichung wurde Newman von den Katholiken erneut als Verfechter ihrer Sache geschätzt. Mehr als die Hälfte der englischen Priester dankte ihm persönlich für die Verteidigung ihres guten Rufes. Aber auch bei den Anglikanern gewann Newman wieder Ansehen. Viele erneuerten ihre Freundschaft mit ihm. Allgemein war man in England von seiner Lauterkeit überzeugt und ließ viele Vorurteile gegenüber Rom fallen. Noch mehr: Zum ersten Mal seit der Reformation hatte das Buch eines Katholiken die englische Volksseele erobert. Es wurde deutlich, dass man ganz Engländer und ganz Katholik sein kann, was bis zu diesem Zeitpunkt unmöglich schien. Damit hat Newman der katholischen Kirche in England und weit darüber hinaus einen unschätzbaren Dienst erwiesen.
Bis ins hohe Alter setzte Newman seine theologische und seelsorgliche Tätigkeit unvermindert fort. 1878 wurde Leo XIII. zum Papst gewählt. Es scheint, dass dieser Papst selbst die Idee hatte, Newman zum Kardinal zu erheben. Denn er nannte ihn bei einer Audienz schlicht und einfach „il mio Cardinale”, und er fügte hinzu: „Ich war entschlossen, die Kirche zu ehren, indem ich Newman ehrte”.
Diese Ernennung war die von Gott gefügte Rechtfertigung für Newmans Wirken. Nun war er von der katholischen Kirche nicht nur voll anerkannt. Der Papst hatte ihm die höchste Auszeichnung verliehen, die er ihm geben konnte. Als Newman in Rom die Bulle mit der Kardinalernennung in Empfang nahm, hielt er eine berühmt gewordene Rede, in der er den Kampf gegen den religiösen Liberalismus als sein eigentliches Lebensprogramm bezeichnete. Unter dem religiösen Liberalismus verstand er die Haltung, dass alle Religionen doch eigentlich gleich viel wert wären, dass es keine wahre Religion gäbe, dass Religion reine Privatsache wäre und das öffentliche Leben deshalb nicht bestimmen dürfte. Diese Haltung, die Papst Benedikt XVI. immer wieder „Relativismus” nennt, ist heute weithin zum allgemeinen Zeitgeist und zu einer der größten Herausforderungen für den christlichen Glauben geworden. Mit prophetischem Weitblick sah Newman diese Gefahr auf die Kirche zukommen. Und er wies darauf hin, dass wir – trotz aller Schwierigkeiten – nicht entmutigt oder verzagt sein dürfen: Denn das Licht Gottes ist stärker als die Mächte der Finsternis. Diesem Licht müssen wir vertrauen, dieses Licht müssen wir den Menschen bringen.


7. Der Heilige?
War Newman ein Heiliger? Seit seinem Tod am 11. August 1890 wird er von den Menschen wie ein Heiliger verehrt. 1991 unterzeichnete Papst Johannes Paul II. das Dekret über seine heroischen Tugenden. Vor einigen Jahren wurde in der Erzdiözese Boston in den USA ein Mann auf die Fürsprache Newmans geheilt. Die Prüfung dieses Wunders durch die römische Heiligsprechungskongregation ist knapp vor dem Abschluss, so dass Newman sehr bald zur Ehre der Altäre erhoben werden könnte. Dann würde das Licht seines Glaubens noch mehr in aller Welt leuchten!

Über das Licht, das seinen Weg erleuchtet hat, schrieb er in einem seiner wunderbaren Gebete: „Bleibe bei mir! Dann werde ich selber leuchten. Wie du geleuchtet hast, werde ich anderen ein Licht sein. All dieses Licht ist von dir, o Jesus. Nichts kommt von mir oder ist mein Verdienst. Du bist es, der durch mich andern leuchtet. O gib, dass ich dich so verherrliche, wie es dir am besten gefällt, indem ich allen um mich leuchte! Gib ihnen Licht, so gut wie mir! Erleuchte sie durch mich und mit mir! Lehre mich, dein Lob, deine Wahrheit und deinen Willen kundzutun! Gib, dass ich dich verkünde, auch ohne zu predigen – nicht durch Worte, sondern durch mein Beispiel, durch die weiterwirkende Kraft und den gewinnenden Einfluss dessen, was ich tue – durch meine sichtbare Ähnlichkeit mit deinen Heiligen und die offenbare Fülle der Liebe, die mein Herz für dich bewegt!”

GEISSLER H., “Liebe, das eine Notwendige”

Einige Gedanken von John Henry Newman. L’Osservatore Romano, dt. Wochenausgabe 7 (17 febbraio 2006) 11.

Papst Benedikt XVI. hat uns in seiner ersten Enzyklika Deus caritas est dazu eingeladen, die christliche Liebe in ihrer einzigartigen Bedeutung neu zu entdecken. Die folgenden Gedanken von John Henry Newman, der am 21. Februar 1801, also vor genau 205 Jahren geboren wurde, wollen einige Aspekte zu diesem Thema, ausgehend von Predigten des großen englischen Konvertiten, in Erinnerung rufen.

Glaube und Liebe

Newman sprach immer wieder davon, daß wir zur Liebe geschaffen sind. „Wir lieben, weil es unsere Natur ist zu lieben; und es ist unsere Natur, weil Gott … sie zu unserer Natur gemacht hat”. Er unterstreicht, daß allein die Liebe dem Leben Sinn und Erfüllung zu geben vermag. „Unser wirkliches und wahres Glück besteht nicht im Wissen, Begehren oder Erstreben, sondern im Lieben, Hoffen, Sich-freuen, Bewundern, Verehren, Anbeten. Unser wirkliches und wahres Glück liegt im Besitz jener Dinge, in denen unser Herz Ruhe und Frieden finden kann”.
Obwohl Newman um die Vorrangstellung der Liebe weiß, predigt er häufiger über den Glauben als über die Liebe. Er ist davon überzeugt, daß der Glaube der Weg hin zur reifen christlichen Liebe ist. Glaube und Hoffnung sind wie zwei Wanderstäbe, die uns helfen, den Pfad der Liebe zu finden und auf diesem Pfad voranzuschreiten. „Die erste Tugend ist der Glaube, die letzte die Liebe; zuerst kommt der Eifer, danach kommt die Liebenswürdigkeit… Mögen wir alle Tugenden nach und nach in uns zur Reife bringen – in Furcht und Zittern, wachend und büßend, weil Christus kommt; freudig, dankbar und unbekümmert um die Zukunft, weil er schon da ist”.
Zugleich ist die Liebe die edelste aller Gaben Gottes, denn sie hört niemals auf. In dieser Hinsicht überragt sie, wie Newman in der Predigt „Glaube und Liebe” aufzeigt, auch den Glauben und die Hoffnung. „Glaube und Hoffnung sind die Tugenden eines unvollkommenen Zustandes und hören mit ihm auf; die Liebe aber ist größer, weil sie Vollendung ist. Glaube und Hoffnung sind Tugenden, solange wir an diese Erde gebunden sind ? die vergänglich ist; die Liebe aber ist eine Tugend für uns als Geschöpfe Gottes, hienieden und überall, für uns als Teilhaber einer Erlösung, die ewig dauert. Glaube ist nicht mehr, wo Schau ist; noch Hoffnung, wo Besitz; aber die Liebe wird (wie wir glauben) in alle Ewigkeit wachsen”. Die Liebe hat kein Ende.
Die Liebe bildet zudem gleichsam den inneren Motor und die treibende Kraft aller anderen Tugenden. „Wir glauben an Gottes Wort, weil wir es lieben; wir erhoffen den Himmel, weil wir ihn lieben. Wir hätten weder Hoffnung darauf, noch Interesse daran, wenn wir ihn nicht liebten; wir würden auf den Gott des Himmels nicht vertrauen, noch uns auf ihn verlassen, wenn wir ihn nicht liebten”. Glaube und Hoffnung müssen also von der Liebe beseelt und durchdrungen sein, um Bestand haben zu können. Das Leben aus dem Glauben ist im Alltag nicht immer leicht. Manchmal fordert es den Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Immer verlangt es Mühe und Anstrengung. Manchmal verspüren wir jedoch eine Abneigung gegenüber dem, was mit Opfer und Selbstverleugnung verbunden ist. Auf die Frage, warum dies so ist, gibt Newman in der Homilie „Liebe, das eine Notwendige” die verblüffend einfache Antwort: „Offensichtlich, weil es uns an Liebe gebricht”.
Schließlich führt die Liebe zum Ziel unserer irdischen Pilgerschaft. Newman verkündet, „daß der Glaube uns gerade über die Welt erheben kann, die Liebe jedoch bis an den Thron Gottes hinführt; daß der Glaube uns nur hellsichtig, die Liebe jedoch glückselig machen kann”. Echte Liebe macht eins ? vollkommen im Himmel und anfanghaft schon hier auf Erden. „Es ist die Liebe, in der der Vater und der Sohn in der Einheit des Heiligen Geistes eins sind; durch die die Engel im Himmel eins sind, durch die alle Heiligen mit Gott eins sind, durch die die Kirche eins ist auf Erden”. Einheit ist die Frucht der Liebe.

Liebe zum Nächsten

Kardinal Newman hatte eine Abneigung gegenüber einem einseitig theoretischen und sentimentalen Verständnis von Liebe. In seiner Ansprache „Verwandten? und Freundesliebe” wendet er sich gegen jene, die viel von Liebe reden, aber die alltäglichen Pflichten vernachlässigen. Er nennt es eine Torheit, wenn manche „in großsprecherischer Art ihre allumfassende Liebe zum ganzen Menschengeschlecht anpreisen und sich als Freunde der gesamten Menschheit und dergleichen ausgeben. Wo laufen solche prahlende Bekenntnisse hinaus? Daß solche Menschen gewisse wohlwollende Gefühle gegen die Welt hegen – Gefühle und nichts mehr -; nichts mehr als unbeständige Gefühle, die bloße Ausgeburt einer ungezügelten Einbildung, die nur vorhanden sind, wenn das Gemüt beeindruckt ist, in der Stunde der Not aber sicher ausbleiben. Das heißt nicht, die Menschen lieben, sondern nur in Worten sich über Liebe ergehen”.
Echte Liebe zu den Menschen zeichnet sich dadurch aus, daß sie konkrete Taten setzt und beim Nächsten beginnt, bei dem, dessen Stärken und Schwachen, dessen Vorzüge und Eigenheiten nur zu gut bekannt sind. „Die wirkliche Menschenliebe muß aus der praktischen Übung erwachsen und muß daher mit dem Werke an unseren nächsten Freunden beginnen, sonst hat sie keinen Bestand. Das Bestreben, unsere Verwandten und Freunde zu lieben, die Geneigtheit gegenüber ihren Wünschen, auch wenn sie den unsrigen widerstreben, die Geduld mit ihren Schwächen, die Überwindung ihres gelegentlichen Wankelmutes durch freundliches Wesen, die Freude an ihren Vorzügen und der Versuch, sie nachzuahmen, das sind die Dinge, mit denen wir die Liebe gleich einer Wurzel in unsere Herzen einsenken, die, zwar klein am Anfang, doch zuletzt wie das Senfkorn sogar die Erde überschatten kann”. Newman ist der Überzeugung, daß „die Pflege der häuslichen Liebe”, also der Liebe zu Angehörigen, Freunden und Verwandten, „die Quelle der ausgedehnteren christlichen Liebe” ist. Die Einordnung in eine konkrete Gemeinschaft und das Zusammenleben mit anderen Menschen fordert bewußte Akte der Hingabe und der Selbstverleugnung. Solche Akte machen die Liebe stark und beständig.
Als Beispiel gereifter Nächstenliebe verweist Newman auf den Apostel Johannes, der wie kein anderer die Liebe zur Herzmitte seines Lebens und Wirkens gemacht hat. „Begann er nun unter ungeheurer Mühe in großem Maßstab zu lieben? Nein, sondern er hatte das unaussprechliche Vorrecht, der Freund Christi zu sein. Dies war seine Schule der Nächstenliebe; zuerst sammelte sich seine Liebe in einem Brennpunkt, dann sandte sie ihre Strahlen aus. Zunächst hatte er die hohe und trostreiche Aufgabe, nach dem Hingang unseres Herrn für seine Mutter, die allerseligste Jungfrau, zu sorgen. Entdecken wir nicht hier die geheimen Quellen seiner besonderen Bruderliebe? Konnte er, dem der Heiland zuerst seine Liebe zugewandt und dem er dann die Stellung eines Sohnes zu seiner Mutter anvertraut hatte, etwas anderes sein als das lebendige Denkmal und das Musterbild (soweit ein Mensch es sein kann) einer tiefen, beschaulichen, stillruhenden und grenzenlosen Liebe?”.
Newman wandte sich häufig gegen religiöse Strömungen, die den Gefühlen eine zu große Rolle beimessen. Das bedeutet aber nicht, daß er eine gefühllose Liebe pflegte und verkündete. Im Gegenteil, in seinen Ausführungen über das „Mitgefühl, die Gabe des heiligen Paulus” legt er dar, wie der Völkerapostel von einer herzlichen und mitfühlenden Liebe zu den Menschen erfüllt war und gerade dadurch ihre Herzen gewinnen konnte.
Paulus, der innig mit Christus verbunden lebte, war auch von einer tiefen menschlichen Liebe zu seinen Freunden und Mitarbeitern erfüllt. Er sehnte sich danach, sie zu sehen, er litt mit ihnen, er empfand Schmerz über die Untreue mancher von ihnen. Er zeichnete sich durch ein feines Einfühlungsvermögen aus. „Mit einem Wort: er, der besondere Künder der göttlichen Gnade, ist auch der besondere Freund und Vertraute der menschlichen Natur. Er, der uns das Geheimnis der höchsten göttlichen Ratschlüsse enthüllt, bekundet zu gleicher Zeit das zarteste Interesse an der Seele des einzelnen Menschen”.
In einem Brief an seinen anglikanischen Freund John Keble schreibt Newman: „Die erste Pflicht der Nächstenliebe besteht darin, zu versuchen, in den Geist und die Gefühle der anderen einzutreten”. Dies ist freilich nur möglich, wenn Ehrfurcht und Achtung den Umgang mit dem Nächsten beseelen. „Niemand liebt wirklich einen anderen, der nicht eine gewisse Ehrfurcht vor ihm fühlt. Wenn Freunde diese Beherrschtheit ihrer Zuneigung überschreiten, können sie zwar fortfahren, eine Zeitlang Kameraden zu sein, aber sie haben das einigende Band zerrissen. Es ist die gegenseitige Achtung, welche die Freundschaft dauerhaft macht”. Ehrfurcht gehört zum Wesen echter Liebe.

Liebe und Wahrheit

Newman deckte in seinen Ansprachen auch die Entstellung des Begriffs der Liebe durch den religiösen Liberalismus und Relativismus auf. Kennzeichnend dafür ist zum Beispiel seine Predigt „Toleranz gegen religiösen Irrtum”. Darin geht er von der allgemeinen Feststellung aus, daß wir das rechte Maß verlieren, wenn wir uns selbst und nicht Gott in den Mittelpunkt stellen. „Mögen wir noch so himmlisch gesinnt sein, noch so liebevoll, noch so heilig, noch so eifrig, noch so tatkräftig, noch so friedlich, wenn wir jedoch für einen Augenblick von ihm weg und auf uns selbst schauen, dann verfallen alsbald diese hervorragenden Eigenschaften in irgendein Zuviel oder Zuwenig. Liebe wird zu übergroßer Nachgiebigkeit, Frömmigkeit wird mit geistigem Stolz befleckt, Eifer artet in Ungestüm aus, Aktivitat verschlingt den Gebetsgeist, Hoffnung versteigt sich zur Vermessenheit”.
Nach Newman ist es verhältnismäßig leicht, einzelne Tugenden zu pflegen, vor allem dann, wenn sie im Trend der Zeit liegen. Eine solche relativ leicht zu übende Tugend ist die Toleranz im Umgang mit anderen Menschen. Viele halten diese edle Tugend hoch, die für das friedliche Zusammenleben unentbehrlich ist. Sie vernachlässigen aber manchmal die damit komplementäre Tugend, die Festigkeit in den Prinzipien, und neigen deshalb dazu, nicht nur den Irrenden, sondern auch den Irrtum zu tolerieren. Im Apostel Johannes sind respektvolle Liebe zu den Menschen und Eifer für die Wahrheit beispielhaft miteinander verbunden. Darum stellt ihn Newman den Christen als Vorbild vor Augen. „So wenig widersprechen seine Liebesglut und Liebesfülle seinem Eifer für Gott, daß er …, je mehr er die Menschen liebte, um so mehr ihnen die großen, unveränderlichen Wahrheiten kundzumachen wünschte, denen sie sich unterwerfen müssen, wenn sie das Leben sehen möchten, und vor denen eine schwache Nachgiebigkeit sie ihre Augen schließen läßt. Er liebte die Brüder, aber er liebte sie ‘in der Wahrheit’ (3 Joh 1). Er liebte sie um der lebendigen Wahrheit willen, die sie erlöst hatte, um der Wahrheit willen, die in ihnen war, um der Wahrheit willen, die das Maß für ihre übernatürliche Belohnung war. Er liebte die Kirche so aufrichtig, daß er gegen jene streng war, die sie beunruhigten. Er liebte die Welt so weise, daß er die Wahrheit in ihr verkündigte. Wenn jedoch die Menschen sie verwarfen, dann liebte er sie nicht so ungeordnet, daß er den Vorrang der Wahrheit als des Wortes dessen, der über allem ist, vergaß”. Liebe und Wahrheit bilden keine Gegensätze, sondern bedingen einander: Wahrheit ohne Liebe ist kalt und hart, Liebe ohne Wahrheit ist blind und führt zur Auflösung der Prinzipien.
Realistisch sah Newman, daß es zu seiner Zeit viele gab, die Johannes in seiner Freundlichkeit folgten, aber wenige, die seinen Glaubenseifer in sich trugen. Er klagte, daß diese Christen ein zu menschliches Bild von Gott und von der Kirche haben. Darum ist es – wie er ausführt – nicht außergewöhnlich, „daß sie ihre Lenden entgürten und verweichlicht werden. Kein Wunder, daß ihre ideale Vorstellung von einer vollkommenen Kirche eine Kirche ist, die jeden seinen Weg gehen läßt und auf jedes Recht verzichtet, eine Ansicht zu äußern, erst recht einen Urteilsspruch über religiösen Irrtum zu verhängen”.
Diese vom religiösen Liberalismus geprägte Auffassung der Liebe ist nach Newman nicht mit der biblischen Offenbarung zu vereinbaren. Er ruft seine Zuhörer auf: „Hier nun liegt unsere Not heutzutage, darum müssen wir beten, daß eine Erneuerung kommen möge in dem Geist und in der Kraft des Elia. Wir müssen Gott bitten, Er möge so ‘sein Werk im Lauf der Jahre erneuern’ (Hab 3,2); uns eine strenge Zucht senden, die Losung des heiligen Paulus und des heiligen Johannes, nämlich ‘die Wahrheit in Liebe zu künden’ (Eph 4,15) und ‘zu lieben in der Wahrheit’ (3 Joh 1) … Dann nur sind die Christen erfolgreich im Kampf, wenn sie … inmitten von Festigkeit, Strenge und Heiligkeit Liebe üben”.

Liebe und Gnade

Alles oberflächliche Gerede über die Liebe war Newman zuwider. Er verwies oft darauf, daß nur jene in die echte christliche Liebe hineinreifen, die sich im guten Kampf eines jeden Tages darum bemühen und die große Gabe der Liebe in Demut von Gott erflehen. Denn nur die Gnade, die uns in der Taufe bereits anfanghaft geschenkt ist, bringt die Liebe in unseren Herzen zur vollen Entfaltung.
Darum betet Newman: „Mein Gott, du weißt unendlich besser als ich, wie klein meine Liebe ist. Ich kann dich überhaupt nicht lieben, außer mit deiner Gnade. Deine Gnade hat die Augen meines Geistes aufgetan und sie befähigt, deine Herrlichkeit zu schauen. Deine Gnade hat mein Herz berührt und es für die Einwirkung dessen, was so wunderbar schön und erhaben ist, bereitet. Wie könnte ich dich nicht lieben, o mein Gott, es sei denn, daß eine schreckliche Verkehrtheit mich hindert, dich zu sehen? Was ist mir so nahe wie du, mein Gott? Und doch stören die Dinge und Freuden dieser Erde deinen Anblick, wenn deine Gnade nicht hilft. Behüte du meine Augen und Ohren und mein Herz vor dieser unwürdigen Tyrannei! Löse die Bande, wecke auf mein Herz! Halte mein ganzes Sein fest in dir! Laß mich dein Angesicht nie aus den Augen verlieren! Und während mein Blick in dir ruht, laß meine Liebe zu dir wachsen, täglich mehr!”.


RATZINGER J., John Henry Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche. L’Osservatore Romano (deutsche Wochenausgabe) 35 Jhg./22 (03.06.2005) 9.

Am 15. Mai 1879 hat Papst Leo XIII. den berühmten englischen Theologen John Henry Newman zum Kardinal erhoben und so dessen außergewöhnliche Verdienste für die Kirche in England und weit dar
über hinaus gewürdigt. Zum Gedenken an dieses Ereignis veröffentlichen wir eine Ansprache, in der Kardinal Joseph Ratzinger – jetzt Papst Benedikt XVI. – seinen persönlichen Zugang zu Newman dargelegt und die Bedeutung dieses großen Lehrers der Kirche für unsere Zeit unterstrichen hat. Er hielt die Ansprache bei einem Symposium anlässlich des 100. Todestages von Newman im Jahr 1990. Dieses Symposium wurde vom Internationalen Zentrum der Newman-Freunde in Rom organisiert, das von Mitgliedern der geistlichen Familie “Das Werk” geleitet wird.


Ich fühle mich nicht kompetent, über Newmans Gestalt und Werk zu sprechen, aber vielleicht ist es sinnvoll, wenn ich ein wenig über meinen eigenen Zugang zu Newman sage, in dem sich ja auch etwas von der Gegenwart dieses großen englischen Theologen im geistigen Ringen unserer Zeit widerspiegelt.
Als ich im Januar 1946 in dem nach den Kriegswirren endlich wieder eröffneten Freisinger Priesterseminar mein Studium der Theologie beginnen konnte, fügte es sich, daß unserer Gruppe ein älterer Student als Präfekt zugeteilt wurde, der noch vor Kriegsbeginn an einer Dissertation über Newmans Theologie des Gewissens zu arbeiten begonnen hatte. In all den Jahren seines Einsatzes im Krieg hatte er dieses Thema nicht aus den Augen verloren, das er nun mit neuer Begeisterung und Energie aufgriff. Schon bald verband uns persönliche Freundschaft, die ganz um die großen Probleme der Philosophie und der Theologie kreiste. Daß Newman dabei immer gegenwärtig war, versteht sich von selbst. Alfred Läpple – er war der genannte Präfekt – hat dann 1952 seine Dissertation unter dem Titel “Der einzelne in der Kirche” veröffentlicht.
Newmans Lehre vom Gewissen wurde für uns damals zu einer wichtigen Grundlegung des theologischen Personalismus, der uns alle in seinen Bann zog. Unser Menschenbild wie unser Bild von der Kirche wurde von diesem Ausgangspunkt her geprägt. Wir hatten den Anspruch einer totalitären Partei erlebt, die sich selbst als die Erfüllung der Geschichte verstand und das Gewissen des einzelnen negierte; einer ihrer Führer hatte gesagt: “Ich habe kein Gewissen! Mein Gewissen ist Adolf Hitler”. Die ungeheure Verwüstung des Menschen, die daraus folgte, stand uns vor Augen. So war es für uns befreiend und wesentlich zu wissen, daß das Wir der Kirche nicht auf dem Auslöschen des Gewissens beruhte, sondern genau umgekehrt sich nur vom Gewissen her entwickeln kann. Gerade weil Newman die Existenz des Menschen vom Gewissen her, das heißt im Gegenüber von Gott und Seele deutete, war aber auch klar, daß dieser Personalismus kein Individualismus ist und daß die Bindung an das Gewissen keine Freigabe in die Beliebigkeit hinein bedeutet – das Gegenteil ist der Fall. Von Newman her lernten wir den Primat des Papstes verstehen: Gewissensfreiheit – so sagte uns Newman – ist nicht identisch mit dem Recht, “sich vom Gewissen zu dispensieren, einen Gesetzgeber und Richter zu ignorieren und von unsichtbaren Verpflichtungen unabhängig zu sein”. So ist Gewissen in seinem wahren Sinn Fundament der päpstlichen Autorität. Denn ihre Macht kommt aus der Offenbarung, die das nur unvollkommen erleuchtete natürliche Gewissen ergänzt, und “das Eintreten für das moralische Recht des Gewissens ist der Sinn seiner Existenz “.

Ich brauche wohl nicht eigens zu sagen, daß mir diese Gewissenslehre im Fortgang der Entwicklung von Kirche und Welt nun immer noch wichtiger geworden ist. Immer mehr sehe ich, wie sie sich ganz erst erschließt im Zusammenhang der Biographie des Kardinals, die wiederum nur zu verstehen ist im Kontext des geistigen Dramas seines Jahrhunderts und gerade so zu uns spricht. Newman war als Mann des Gewissens zum Konvertiten geworden; es war sein Gewissen, das ihn aus den alten Bindungen und Geborgenheiten herausführte in die für ihn schwierige und ungewohnte Welt des Katholizismus hinein. Aber gerade dieser Gewissensweg ist alles andere als ein Weg der sich selbst behauptenden Subjektivität: Er ist ein Weg des Gehorsams zur objektiven Wahrheit. Der zweite Schritt in Newmans lebenslangem Bekehrungsweg war ja die Überwindung der subjektiv-evangelikalen Position zugunsten einer auf die Objektivität des Dogmas gründenden Auffassung von Christentum. Ich finde in diesem Zusammenhang immer noch und gerade heute höchst bedeutend eine Formulierung aus einer seinen frühen Predigten. Wahres Christentum erweist sich im Gehorsam und nicht durch einen Bewusstseinszustand. “So ist die ganze Pflicht und Arbeit eines Christen auf diesen beiden Teilen aufgebaut, auf Glaube and Gehorsam; ‘er sieht auf Jesus’ (Heb 2,9)… und handelt nach seinem Willen… Wir sind, scheint mir, heute in der Gefahr, auf keines von beiden Gewicht zu legen, wie wir sollten. Wir sehen alle wahre and sorgfältige Betrachtung des Glaubensinhalts als unfruchtbare Orthodoxie, technische Spitzfindigkeit… an, infolgedessen lassen wir… den Beweis unserer Frömmigkeit in dem Besitz eines so genannten geistlichen Gemütszustandes bestehen”.
In diesem Zusammenhang sind mir einige auf den ersten Blick eher erstaunlich klingende Sätze aus der Studie Die Arianer des Vierten Jahrhunderts wichtig geworden: “Der Friede gründet sich in der Schrift darauf, sich dem Anspruch der Wahrheit als erste Autorität in allen Fragen des politischen and privaten Verhaltens zu unterwerfen; zu begreifen…, dass… der Eifer für die Wahrheit in der Reihenfolge der christlichen Tugenden vor der Güte steht”. Für mich ist es immer wieder faszinierend zu sehen und zu bedenken, wie gerade so und nur so, durch die Bindung an die Wahrheit, an Gott das Gewissen Rang, Würde and Kraft bekommt. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur noch einen Satz aus der Apologia pro vita sua anführen, der umgekehrt den Realismus dieses Konzepts von Person und Kirche zeigt: “Lebendige Bewegungen gehen nicht von Komitees aus”.

Ganz kurz möchte ich noch einmal zum autobiographischen Faden zurückkehren. Als ich 1947 in München mein Studium fortsetzte, fand ich in dem dortigen Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen, der mein eigentlicher theologischer Lehrer wurde, einen belesenen und begeisterten Anhänger Newmans. Er erschloss uns die Grammar of Assent und mit ihr die besondere Weise und Gewissheitsform religiösen Erkennens. Tiefer noch wirkte auf mich der Beitrag, den Heinrich Fries im Zusammenhang des Jubiläums von Chalkedon veröffentlichte: Hier fand ich den Zugang zu Newmans Lehre von der Entwicklung, die ich neben seiner Gewissenslehre als seinen entscheidenden Beitrag zur Erneuerung der Theologie ansehe. Mit ihr hat er uns den Schlüssel in die Hand gegeben, geschichtliches Denken in die Theologie einzubauen oder vielmehr: er hat uns gelehrt, Theologie geschichtlich zu denken und gerade so die Identität des Glaubens in allen Verwandlungen zu erkennen. Ich muss es mir hier versagen, diesen Gedanken weiter zu vertiefen. Mir scheint, daß Newmans Ansatz auch in der modernen Theologie noch nicht voll ausgewertet ist. Er birgt noch fruchtbare Möglichkeiten in sich, die der Entfaltung harren. An dieser Stelle möchte ich nur wieder auf den biographischen Hintergrund dieser Konzeption verweisen. Man weiß, wie Newmans Einsicht in den Entwicklungsgedanken seinen Weg zum Katholizismus geprägt hat. Aber dabei geht es nicht nur um eine Entfaltung von Ideen. Im Konzept der Entwicklung ist Newmans eigenes Leben im Spiel. Das scheint mir sichtbar zu werden in seinem bekannten Wort: “Leben heißt sich wandeln und vollkommen sein, heißt, sich oft gewandelt haben”. Newman ist in seinem ganzen Leben ein Sich-Bekehrender gewesen, ein Sich-Wandelnder, und so ist er immer er selbst geblieben and immer mehr er selbst geworden.
Mir kommt hier die Gestalt des heiligen Augustinus in den Sinn, mit dem Newman so vieles verbindet. Als Augustinus sich im Garten zu Cassiciacum bekehrte, hatte er Bekehrung noch ganz im Schema des verehrten Meisters Plotin und der neuplatonischen Philosophen verstanden. Er dachte, nun sei das vergangene Sündenleben endgültig abgestoßen; der Bekehrte sei fortan ein ganz Neuer and anderer, und sein weiterer Weg sei ein unaufhaltsamer Aufstieg zu immer reinerer Höhe der Gottesnähe, etwa so wie Gregor von Nyssa es in seinem Aufstieg des Moses ausgelegt hat: “Genauso wie Körper, wenn sie den ersten Anstoß nach unten erhalten haben, auch ohne weitere Einwirkung von selbst in immer größerer Geschwindigkeit zur Tiefe stürzen…, so gerät umgekehrt die Seele, die sich von der irdischen Leidenschaft gelöst hat, in eine schnellstürzende Aufwärtsbewegung…, erhebt sich ständig über sich… in stetig aufwärtsstrebendem Flug”. Die reale Erfahrung Augustinus war eine andere: Er musste lernen, dass Christsein immerfort ein mühsamer Wanderweg ist mit all seinen Höhen und Tiefen. Das Bild des ascensus wird von dem des iter abgelöst, in dessen ermüdender Schwere uns die Augenblicke des Lichtes trösten und tragen, die wir dann und wann empfangen dürfen. Bekehrung ist iter – Weg eines ganzen Lebens. So ist Glaube immer development und gerade auf diese Weise Reifen der Seele zur Wahrheit, zu Gott, der uns innerlicher ist als wir uns selbst. Newman hat in der Idee der Entwicklung die eigene Erfahrung einer nie abgeschlossenen Bekehrung ausgelegt und uns darin nicht nur den Weg der christlichen Doktrin, sondern den des christlichen Lebens interpretiert. Das Kennzeichen des großen Lehrers in der Kirche scheint mir zu sein, dass er nicht nur durch sein Denken und Reden lehrt, sondern mit seinem Leben, weil Denken und Leben sich in ihm gegenseitig durchdringen und bestimmen. Wenn es so ist, dann gehört Newman zu den großen Lehrern der Kirche, weil er zugleich unser Herz berührt und unser Denken erleuchtet.


GEISSLER H., Streiter für die Wahrheit wider den Zeitgeist,
Vor 125 Jahren wurde John Henry Newman zum Kardinal erhoben, Die Tagespost 17, (26.06.2004)

„Von Anfang an habe ich gegen ein großes Zeitübel gekämpft: seit dreißig, vierzig, fünfzig Jahren bemühe ich mich nach meinen besten Kräften, den Geist des Liberalismus im Religiösen abzuwehren.“ Dieses Wort stammt aus der bekannten Rede, die John Henry Newman hielt, als ihm am 12. Mai 1879 die Bulle mit der Ernennung zum Kardinal überreicht wurde. Im religiösen Liberalismus sah Newman den größten Feind des Christentums. Die Ernennung zum Kardinal war ihm deshalb ein willkommener Anlass, seine Überzeugung zu bekräftigen, dass die Kirche dringender denn je Streiter nötig habe, die den Kampf gegen den religiösen Liberalismus aufnehmen, „da er ein Irrtum ist, der leider die ganze Welt in seine Fallstricke zieht“. Der gläubige Einsatz für die geoffenbarte Wahrheit wider den Zeitgeist zieht sich wie ein roter Faden durch Newmans Leben und Wirken. Gerade darin ist uns der englische Theologe, den Papst Leo XIII. vor 125 Jahren in den Rang der Purpurträger erhoben hat, ein großes Vorbild.

Die Heilige Schrift als Quelle ethischer Grundsätze
Schon als Jugendlicher besaß Newman, der am 21. Februar 1801 in London geboren wurde und in einer anglikanischen Familie aufwuchs, einen Sinn für Religion, der sich vor allem in der Liebe zur Heiligen Schrift zeigte. In der Bibel fand er ethische Grundsätze, die ihm einsichtig waren. Was ihm damals aber fehlte, waren echte Glaubensüberzeugungen. So hatte er auch bald mit Versuchungen zum Unglauben zu kämpfen und fühlte sich zu einem Humanismus ohne Gott hingezogen. Ein Gentleman wollte er sein, aber kein Gottgläubiger. „Ich erinnere mich des Gedankens, ich möchte wohl tugendhaft sein, aber nicht religiös. Es lag etwas in der Vorstellung des letzteren, das ich nicht mochte. Auch hatte ich nicht erkannt, was es für einen Sinn hätte, Gott zu lieben.“

Inmitten dieser inneren Stürme kam es zur ersten Wende in seinem Leben, die er oft seine „erste Bekehrung“ nannte. Er musste damals die Sommerferien im Internat verbringen und las auf Anregung eines Lehrers das Buch „Die Macht der Wahrheit“ von Thomas Scott. Die Lektüre dieses Buches traf ihn mitten ins Herz und führte ihn zu einem lebendigen Glauben an die Gegenwart Gottes. „Ich ließ mich in dem Gedanken Ruhe finden, dass es zwei und nur zwei Wesen gebe, die absolut und von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer“. Dem Buch von Scott entnahm er zwei Worte, die wie ein Motto sein ganzes Leben durchziehen sollten: „Heiligkeit vor Frieden“ und „Wachstum ist der einzige Beweis des Lebens“.

Von dieser ersten Bekehrung an strebte Newman danach, der Wahrheit ohne Kompromiss zu folgen. „Als ich fünfzehn Jahre alt war (im Herbst 1816) ging in meinem Denken eine große Änderung vor sich. Ich kam unter den Einfluss eines bestimmten Glaubensbekenntnisses, und mein Geist nahm dogmatische Eindrücke in sich auf, die durch Gottes Güte nie mehr ausgelöscht und getrübt wurden.“

In der Folge wurden die großen christlichen Glaubenswahrheiten – die Menschwerdung Gottes, das Werk der Erlösung, die Gabe des Heiligen Geistes in der Kirche und im Glaubenden – in ihm mehr und mehr eine lebendige Wirklichkeit.

Nach Abschluss seiner Studien wurde Newman Professor in Oxford und bald darauf auch anglikanischer Geistlicher. In diesen Jahren kam er unter den Einfluss der hochkirchlichen Richtung des Anglikanismus, die sich vor allem an der alten Kirche orientierte. Er lernte die Kirchenväter kennen, die inmitten einer heidnischen Welt unerschrocken und mutig für den Glauben eingetreten waren. Zugleich sah er mit großer Sorge, dass liberale Strömungen in Oxford und in ganz England zunehmend an Einfluss gewannen – mit der Folge, dass man den Glauben immer mehr aus dem öffentlichen Leben verdrängte, ihn seines Wahrheitsanspruchs beraubte und zu einer Sache der subjektiven Meinung, des persönlichen Geschmacks machte.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, rief Newman zusammen mit einigen Freunden 1833 die Oxford-Bewegung ins Leben. Die führenden Männer dieser Bewegung waren davon überzeugt, dass England vom Glauben abgefallen war und einer „zweiten Reformation“ bedurfte – einer tiefgehenden dogmatischen, liturgischen und geistlichen Erneuerung im Geist der alten Kirche. Das Grundprinzip der Oxford-Bewegung fasste Newman so zusammen: „Mein Kampf galt dem Liberalismus. Unter Liberalismus verstehe ich das antidogmatische Prinzip mit allen seinen Konsequenzen. Von meinem fünfzehnten Lebensjahr an war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion; eine andere Religion kenne ich nicht; den Begriff einer anderen Religion kann ich mir nicht denken; Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk. Man könnte ebensogut von Kindesliebe ohne Eltern sprechen, als von Frömmigkeit ohne die Tatsache eines höchsten Wesens.“

Durch die Veröffentlichung von „Tracts“ – Flugschriften, die wie Blitze aus heiterem Himmel einschlugen – wollten die Führer der Oxford-Bewegung die Gewissen der Geistlichen wie auch der einfachen Gläubigen aufrütteln. Newman wusste, dass sein Kampf gegen den Zeitgeist nur dann Aussicht auf Erfolg hatte, wenn er ein festes Fundament unter den Füßen hatte. Dieses Fundament fand er in den Schriften der Kirchenväter, die er als die wahren Zeugen und Lehrer des christlichen Glaubens liebte und verehrte.
Um dem Anglikanismus eine festere theologische Grundlage zu geben, entwickelte Newman die Theorie der Via media. Damit wollte er zeigen, dass die anglikanische Gemeinschaft – in Abgrenzung zum Protestantismus, der Wahrheiten des Glaubens aufgegeben hatte, und dem Katholizismus, der neue Wahrheiten hinzugefügt hatte – als Via media das Erbe der alten Kirche in Treue wahrte. Beim Studium der alten Kirchengeschichte machte er aber eine Entdeckung, die ihn erschütterte. Zwischen den Arianern und Rom hatte es schon im vierten Jahrhundert eine Via media gegeben: die Semi-Arianer. Die Wahrheit lag jedoch nicht bei ihnen, sondern auf der Seite Roms. Die Theorie der Via media brach wie ein Kartenhaus zusammen.

Dogmen sind keine Verunstaltungen des Glaubens

In der Folge zog sich Newman nach Littlemore, einem kleinen Dorf bei Oxford, zurück, um in Gebet und Studium nach der wahren Kirche zu suchen. Vor allem eine Frage beschäftigte ihn: Wenn die römisch-katholische Kirche in der apostolischen Sukzession ist, wie kann man dann die Lehren rechtfertigen, die scheinbar nicht zum Glaubensgut der alten Kirche gehören? Die Antwort auf diese Frage fand er während seiner Arbeit an der Studie über die Entwicklung der Glaubenslehre: Die neueren Dogmen der katholischen Kirche sind keine Verunstaltungen des Glaubens, sondern authentische Entwicklungen der von Gott geschenkten Offenbarung.

Diese Studie über die Lehrentwicklung, ein theologisches Meisterwerk, enthält einen Abschnitt, in dem Newman das Grundprinzip im Kampf gegen den religiösen Liberalismus auf den Punkt bringt: „Dass es also eine Wahrheit gibt; dass es nur eine Wahrheit gibt; dass religiöser Irrtum an sich unmoralischer Natur ist; dass, wer ihn vertritt – es sei denn unfreiwillig –, sich dadurch schuldig macht; dass das Forschen nach der Wahrheit keine bloße Befriedigung der Neugier ist; dass ihre Erlangung nichts von der Erregung einer Entdeckung hat; dass der menschliche Geist der Wahrheit unterworfen ist, nicht über sie herrscht; dass er verpflichtet ist, statt großspurig über sie zu reden, ihr in Ehrfurcht zu begegnen; dass Wahrheit und Falschheit uns zur Prüfung unserer Herzen vorgesetzt werden; dass unsere Wahl ein schaudererregendes Auswerfen der Lose ist, auf denen Errettung oder Verwerfung geschrieben steht; dass es vor allen Dingen notwendig ist, den katholischen Glauben zu halten, das ist das dogmatische Prinzip, ein Prinzip voller Kraft“.

Je weiter Newman in seiner Studie über die Entwicklung der Glaubenslehre voranschritt, desto klarer erkannte er, dass die Kirche Roms die Kirche der Väter und damit die Kirche Jesu Christi ist. In der Apologia pro vita sua schrieb er darüber: „Ich wurde zu einer genauen Prüfung der Verkettung der Argumente veranlasst, die den Geist von den einfachen bis zu den letzten religiösen Wahrheiten fortleiten, was mich zweifellos schon lange vorher beschäftigt hatte; und ich kam zu dem Schluss, dass es in der wahren Philosophie kein Mittelding zwischen Atheismus und Katholizismus gebe, und dass ein vollkommen konsequenter Geist unter den Umständen, in denen er hienieden lebt, sich entweder zum einen oder zum anderen bekennen müsse“. Am 9. Oktober 1845 konvertierte Newman zur katholischen Kirche, die er als „die eine Herde des Erlösers“ erkannt hatte. Auf Grund seiner Liebe zur Wahrheit und seiner Bereitschaft, dem Ruf des Gewissens ohne Wenn und Aber zu folgen, ist er eine eminent ökumenische Gestalt.
Bald nach der Konversion wurde Newman zum katholischen Priester geweiht und gründete das Oratorium des heiligen Philipp Neri in England. In seinen vielfältigen Aufgaben als Seelsorger und Theologe bemühte er sich nach Kräften um die intellektuelle und geistliche Bildung der Katholiken, vor allem der Konvertiten. Er war davon überzeugt, dass die Gläubigen für die kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Moderne gewappnet werden mussten. Sie sollten den Glauben wirklich kennen. Sie sollten fähig sein, ihn auch zu verteidigen.

Neben vielen anderen Werken veröffentlichte er 1870 seine umfangreiche Studie über die Zustimmungslehre. In diesem Buch, ebenfalls ein Klassiker, analysiert er den Akt, mit dem der menschliche Geist der Offenbarung zustimmt. Er zeigt, wie der Mensch – auch der einfache Christ – in Fragen des Glaubens zur Gewissheit kommt. Der Schlussteil dieses Buches enthält einen Abschnitt, in dem er „Beweise“ für die geoffenbarte Wahrheit in Konfrontation mit der natürlichen Religion, den Verheißungen des Volkes Israel und den Religionen im römischen Reich darlegt. Dieser Abschnitt ist fast so etwas wie eine moderne Apologetik des Christentums inmitten einer zunehmend pluralistischen und multireligiösen Kultur.

„Die natürliche Religion ist auf das Sündenbewusstsein gegründet; sie erkennt die Krankheit, aber sie kann nach dem Heilmittel nur ausschauen, sie kann es nicht finden. Dieses Heilmittel sowohl für die Schuld als auch für das sittliche Unvermögen findet in der zentralen Lehre der Offenbarung, dem Mittleramt Christi, seine Lösung. Daran liegt es, dass das Christentum die Erfüllung der dem Abraham gegebenen Verheißung und der messianischen Offenbarung ist; das erklärt, wie es von Anfang an imstande gewesen ist, die Welt in Besitz zu nehmen und in jeder Klasse der menschlichen Gesellschaft Fuß zu fassen, zu der seine Prediger vorgedrungen sind; das erklärt, warum die römische Macht und die Menge der Religionen, die sie umfasste, ihm nicht standhalten konnten; das ist das Geheimnis seiner fortdauernden Energie und seines nie erschlaffenden Märtyrertums; das erklärt, warum es auch heute noch in so geheimnisvoller Weise mächtig ist, trotz der neuen und schrecklichen Gegner, die seinen Pfad umlagern. Es führt jene Gabe mit sich, die eine tiefe Wunde der menschlichen Natur zu schließen und zu heilen vermag – eine Gabe, die mehr für seinen Erfolg arbeitet als eine ganze Enzyklopädie wissenschaftlicher Erkenntnis und eine ganze Kontroversbibliothek; und darum muss es fortbestehen, solange die menschliche Natur fortbesteht. Es ist eine lebendige Wahrheit, die niemals alt werden kann.

Was uns mit dem Christentum verbindet, ist das Unsichtbare, nicht das Veraltete. Bis zum heutigen Tag rufen seine Riten und Bräuche das aktive Eingreifen jener Allmacht herbei, mit der die Religion vor langer Zeit begann. An erster und höchster Stelle steht die heilige Messe, in der er, der einst am Kreuz für uns starb, durch seine wörtlich zu verstehende Gegenwart in ihr dasselbe eine Opfer vergegenwärtigt und verewigt, das nicht wiederholt werden kann. Gleich danach kommt sein wirkliches Eintreten mit Seele und Leib und Göttlichkeit in die Seele und den Leib jedes Frommen, der zu ihm kommt, um diese Gabe zu erlangen – ein Privileg, viel inniger, als wenn wir mit ihm während seines lang vergangenen Verweilens auf der Erde lebten. Und dann sein persönliches Wohnen in unseren Kirchen, das den irdischen Dienst zu einem Vorgeschmack des Himmels erhebt. Das ist die Aufgabe des Christentums, und ich wiederhole: Gerade dass es unsere Bedürfnisse erahnt, ist an sich ein Beweis dafür, dass es ihre wirkliche Erfüllung ist.“

Newman erfasste die großen Herausforderungen unserer Zeit – zwischen Glaube und Unglaube, zwischen der christlichen Botschaft und dem aufkommenden Relativismus, der das Christentum zu einer von vielen Möglichkeiten auf dem Supermarkt der Religionen degradiert. Er versuchte, auf diese Herausforderungen zu antworten und den Menschen Hilfen zum Glauben anzubieten. Diesem Ziel dienen etwa seine hoch aktuellen Ausführungen über Glaube und Vernunft, über die Bedeutung des Dogmas, über die Sendung und die Unfehlbarkeit der Kirche, über die Rolle des Gewissens. Nicht ohne Grund wird Newman deshalb immer wieder „Kirchenvater der Neuzeit“ genannt.

Kritische Haltung zum religiösen Liberalismus

Bei der schon erwähnten Rede anlässlich der Ernennung zum Kardinal erneuerte Newman seine Kritik am Liberalismus in der Religion. Er beschrieb diese Mentalität damals mit Worten, die von geradezu prophetischer Bedeutung für unsere Zeit sind. Der religiöse Liberalismus ist „die Lehre, dass es keine positive Wahrheit in der Religion gibt, dass vielmehr ein Glaubensbekenntnis so gut ist wie das andere, und diese Lehre gewinnt täglich an Substanz und Kraft. Der Liberalismus widerspricht der Überzeugung, dass irgendeine Religion wahr ist. Er lehrt, dass alle toleriert werden müssen, dass jedoch alle Meinungssache sind. Die geoffenbarte Religion ist nicht Wahrheit, sondern Gefühl und eine Sache des Geschmackes, keine objektive Tatsache, nicht übernatürlich, und jeder Einzelne hat das Recht, sie das sagen zu lassen, was ihm passt. Frömmigkeit ist nicht notwendig auf Glauben gegründet. Die Menschen können in die protestantische oder in die katholische Kirche gehen; sie können in beiden Gutes empfangen und doch keiner angehören. Sie können sich anfreunden in geistlichen Gedanken und Gesinnungen, ohne irgendwelche gemeinsame Ansichten über die Lehre zu haben oder auch nur die Notwendigkeit dafür zu sehen.

Da demnach die Religion eine so persönliche Ansicht und eine so private Angelegenheit ist, müssen wir sie notwendigerweise im menschlichen Verkehr ausschalten. Wenn jemand jeden Morgen eine neue Religion annimmt, was geht das dich an? Über die Religion eines Menschen nachzudenken, ist ebenso anmaßend, wie sich um die Quellen seines Einkommens und die Führung seiner Familie zu kümmern. Religion ist in keiner Weise ein gesellschaftliches Band.“

Heute ist die von Newman kritisierte Mentalität zum allgemeinen Zeitgeist geworden. Wer an der Wahrheit der Offenbarung festhält und in der Öffentlichkeit dafür eintritt, muss damit rechnen, des Hochmuts, des Fundamentalismus und der Intoleranz gegenüber den anderen Religionen verdächtigt zu werden. Die Wahrheitsfrage wird im ökumenischen Gespräch und im interreligiösen Dialog nicht selten aus pragmatischen Gründen umgangen oder hintangesetzt. Es gibt heute ein neues Bedürfnis nach Spiritualität, die aber vom Glauben losgelöst wird und oft unverbindlich bleibt. Christliche Ausdrucksformen – man denke an das Kreuz – werden aus dem öffentlichen Leben verdrängt und der Glaube darf wiederum nur eine Privatsache sein.
Kardinal Newman ruft uns auf, keine Kompromisse mit dem Zeitgeist zu schließen, sondern mutig und im Vertrauen auf den, der die Welt besiegt hat, für den wahren Glauben einzutreten. Denn auch heute ist die Wahrheit der Offenbarung ein unersetzlicher Schatz, der im Glauben angenommen, in Freude gelebt, mit Freimut verkündet und nach besten Kräften verteidigt werden muss.

WILLI P., Newman als Konvertit und Ratgeber der Konvertiten.
Forum Katholische Theologie 7/4 (1991) 273-289.


Kardinal John Henry Newman (1801-1890) zählte zu den berühmtesten Konvertiten der katholischen Kirche. In einem Nachruf schrieb H. J. Coleridge S.J.:
„Der Prozess einer wahren Konversion vollzieht sich selten ohne den Schatten des Kreuzes, im Fall des Kardinals waren es jedoch wahrhaft Geburtswehen. Aber gerade sie waren es, die ihn im wahrsten Sinn zum Vater vieler Seelen machten. Er war durch alle Schwierigkeiten vor ihnen hindurchgegangen.”[1]
Der Einfluss, den Newman seit seiner Konversion bis in die Gegenwart auf Konvertiten ausgeübt hat, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sein jahrelanges Ringen um die Wahrheit und die eine wahre Kirche formten ihn zu einem weisen und klugen Ratgeber für Konvertiten. Ausgestattet mit einer außerordentlichen Sensibilität für religiöse Entwicklungsprozesse und einem Feingespür für seelische Vorgänge und Gewissensfragen, war es gerüstet, gläubige Menschen vor und nach der Konversion zu begleiten. In die Schule Newmans´ zu gehen, empfiehlt sich deshalb jenen, die mit der Frage der Konversion ringen oder die sich um ein tieferes Verstehen und richtiges Beraten von Konvertiten bemühen. Zunächst soll eine auf wesentliche Punkte reduzierte Darstellung seines Weges bis zur Konversion gegeben werden.

I. Newmans Weg in die katholische Kirche

1. Das Sterben nach Wahrheit und Helligkeit

Die Frage nach der Konversion wurde für Newman ab dem Jahre 1839 relevant, der entscheidende Ausgangspunkt muss jedoch in seiner so genannten ersten Bekehrung im Jahre 1816 angesetzt werden. Bei dieser im pietistisch-evangelikalen Milieu, aber nicht nach evangelikalem Muster sich vollziehenden Bekehrung erfasste Newman in seinen Jungendjahren zwei Prinzipien, die ihn schließlich in die katholische Kirche führten: das dogmatische Prinzip und das Prinzip der Heiligkeit. „Als ich fünfzehn Jahre alt war (im Herbst 1816), ging in meinem Denken eine große Änderung vor sich. Ich kam unter den Einfluss eines bestimmten Glaubensbekenntnisses und mein Geist nahm dogmatische Eindrücke in sich auf, die durch Gottes Güte nie mehr ausgelöscht und getrübt wurden.”[2]

Newman gelangte zur Überzeugung, dass Religion wesentlich auf Wahrheiten und nicht auf Gefühlen oder persönlichen Meinungen ruht. Verschiedene Bücher evangelikaler Prägung bewahrten ihn vor dem Fall in den Agnostizismus, von dem er durch die Lektüre einzelner Bücher von Paine, Hume und Voltaire bedroht war.
Das dogmatische Prinzip der Religion, an dem er ein ganzes Leben lang festhielt, wurde ergänzt durch das Prinzip der Heiligkeit. „Heiligkeit geht vor Frieden” und „Wachstum ist der einzige Beweiß des Lebens”[3] – diese Sätze entzündeten in ihm den Durst nach Heiligkeit und überwanden die Vorstellung, dass es genüge, ein bloß tugendhaftes, aber nicht frommes Leben zu führen.[4]

Das Streben nach Wahrheit und Heiligkeit empfand Newman als zwei sich ergänzende und einander bedingende Bewegungen des gläubigen Daseins. Wahrheit war für ihn nie abstrakte Lehre ohne Bezug zum konkreten Leben. Sie trifft den Menschen in seiner ganzen Existenz und formt ihn um in dem Maße, als er ihren verpflichtenden Charakter ganzheitlich erfasst und annimmt. Wie sehr ihn die Wahrheitsfrage persönlich berührt hat, kann anhand von Tagebuchaufzeichnungen nachgewiesen werden, die sein Ringen um ein richtiges Verständnis der Taufe betreffen. „Ich glaube, dass ich mich wirklich nach der Wahrheit sehne und dass ich sie umfangen würde, wo immer ich sie fände…. Ich sehne mich wirklich nach der Wahrheit.”[5] Im Horizont dieser sehr persönlich gehaltenen Worte muss sein Weg in die katholische Kirche verstanden werden, der gekennzeichnet war von den Fragen: Was ist die Wahrheit? Wie finde ich sie? Wer verkündet sie mir?

In der „Apologia” gibt Newman eine detaillierte Darstellung, wie er sich Schritt für Schritt der Fülle der katholischen Wahrheit genähert hat, welche Personen, Freunde oder Lehrer, welche Bücher und Zeitereignisse ihn der katholischen Kirche zugeführt haben.[6]

Newman weiß, dass sich der Mensch um Heiligkeit bemühen muss, um die Wahrheit zu finden. Seit der Erbsünde, durch die der Mensch in Unwissenheit und geistige Blindheit verfiel, fällt es dem Menschen schwer, die Wahrheit zu erfassen. Er kann sie aber finden, wenn er bereit ist, die Geisteshaltungen der Demut und Gelehrigkeit anzunehmen, „die für die Erlangung jeglicher Wahrheit, der religiösen wie jeder anderen, erforderlich sind”[7]. Wahrheit kann nicht ohne Umkehr und Bekehrung, ohne Überwindung von Sünde und Schuld, ohne Gehorsam gegenüber dem erkannten Willen Gottes gefunden werden. Folgende Worte aus einer Predigt des Jahres 1830 charakterisieren treffend seinen persönlichen Weg der Wahrheitssuche in Verbindung mit dem Streben nach Heiligkeit: „Mögen wir immer beherzigen, dass die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit ist (Spr 1,7), dass Gehorsam gegen unser Gewissen in allen Dingen, großen und kleinen, der Weg zur Erkenntnis der Wahrheit ist, dass Stolz das Herz verhärtet und Sinnlichkeit es erniedrigt und alle jene, die in Stolz und sinnlicher Genusssucht leben, nicht besser den Weg des Heiligen Geistes zu begreifen oder die Stimme Gottes zu erkennen vermögen als die Teufel, die nur einen toten Glauben haben und zittern.”[8]

Die Zunahme des inneren Lichtes, die dem stillen, aber steten Anwachsen des Bergbaches bis zum breiten Fluss gleicht, fasst er vier Jahre nach der Konversion in einer Predigt zusammen: „Er hat seine Gnade über uns ausgegossen; er war bei uns in unserer Not; er hat uns von Wahrheit zu Wahrheit geführt; er hat uns unsere Sünden vergeben; er hat unsere Vernunft zufrieden gestellt; er hat uns den Glauben leicht gemacht.”[9]

2. „Von Wahrheit zu Wahrheit” (1816-1833)


Die Lehren über die Dreifaltigkeit, die Menschwerdung und die Erlösung waren die ersten großen Glaubenswahrheiten, die sich im Zuge der ersten Bekehrung dem Denken und Beten des jungen Newman tief einprägten. Er bekannte sich zum Glauben an die ewige Seligkeit und ewige Verdammnis. Von einzelnen kalvinistischen Lehren, die er sich als Jugendlicher aneignete, löste er sich später wieder. Dazu zählt etwa die Auffassung, dass das einmalige Ereignis von Wiedergeburt und Bekehrung die absolute Gewissheit der ewigen Rettung mit sich bringe.

Nachhaltigen Eindruck hinterließ bei ihm ein Buch von Thomas Newton (Dissertations on the Prophecies 1754/58; 1843 18. Aufl.) und der darin vorgenommenen Identifizierung des Papstes mit dem Antichristen: „Unter den Nachwirkungen dieser Lehre litt meine Vorstellungskraft bis zum Jahre 1843. Vernunft und Urteil sagten sich früher von ihr los; der Gedanke aber haftete fest in mir wie ein irriges Gewissen.”[10]
Im Dezember 1817 begann er die akademische Ausbildung am Trinity College in Oxford. Mit Eifer widmete er sich dem Studium der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und wandte sich mit ganzem Herzen der Verwirklichung des biblischen Heiligkeitsideals zu. Die Tagebücher geben davon Zeugnis. Nach dem Abschlussexamen (1820), bei dem ihm aufgrund von Überarbeitung der erwartete ausgezeichnete Erfolg versagt blieb, und der wenig später unerwarteten Wahl zum Fellow am Oriel College, die ihm einen anerkannten Platz in der Universitätswelt Oxfords einbrachte, wurde er im Jahre 1824 zum Diakon und ein Jahr später zum Priester der anglikanischen Kirche geweiht. Während die ersten Jahre vom Streben nach persönlicher Heiligkeit geprägt waren – „Ich selbst und mein Schöpfer”[11] -, bewirkte der Eintritt in den seelsorglichen Dient eine ekklesiologische Ausweitung seiner Spiritualität und seines Heiligkeitsstrebens. „Ich trage Verantwortung für die Seelen bis zum Tag meines Todes.”[12] Den Spuren des heiligen Paulus folgend, war sein theologisches Schaffen immer mit seiner seelsorglichen Tätigkeit eng verknüpft.

In den Jahren 1822-1826 löste sich Newman vollständig vom Evangelikalismus, zugleich vollzog sich in seinem dritten Lebensjahrzehnt eine intensive Hinwendung zum Geheimnis der Kirche. Bezeichnen für diese starke Akzentuierung ist die Aussage seines Bruders Francis: „Ihm bedeutete die Kirche alles, mir bedeutet die Kirche nichts.”[13]

Newman gelangte durch seien väterlichen Freund E. Hawkins, dem Provost des Orielkollegs, zur Erkenntnis, dass zur Interpretation und Erklärung der Bibel die Tradition notwendig sei und die beiden Quellen der Offenbarung nicht getrennt werden dürfen. Durch W. James stieß er auf die Lehre von der apostolischen Sukzession, und R. Whately belehrte ihn über die Kirch als einer vom Staat unabhängigen, von Gott gestifteten und sichtbaren Körperschaft. Bischof Butlers Buch „Analogy” brachte ihm die Bedeutung der sichtbaren Kirche und den historischen Charakter der Offenbarung nahe und legte in ihm die Grundlagen für seine späteren Lehren über die Wahrscheinlichkeit und die Analogien zwischen Natur und Offenbarung.
Im Jahre 1828 begann Newman die Kirchenväter, ausgehend von Ignatius und Justin, systematische zu legen. Besonders hingezogen fühlte er sich zu Klemens, Origenes, und Athanasius. Die Kirchenväter wurden zur geistigen Quelle, aus der er mit Eifer und Freude schöpfte. Immer wieder kommt er vor und nach seiner Konversion auf die Bedeutung der Kirchenväter zu sprechen. „Die Väter haben mich katholisch gemacht, und ich werde die Leiter nicht zurückstoßen, auf der ich in die Kirche eingestiegen bin.”[14] Frucht dieser Studien war die erste größere Arbeit Newmans „The Arians of the Fourth Century” (1833). Er zeigt darin die Notwendigkeit auf, die in der Schrift enthaltenen Wahrheiten zu definieren. Das Konzil von Nizäa lieferte eines der frühesten und berühmtesten Beispiele für diesen Prozeß.

Großen Einfluss übte auch die Freundschaft mit R.H. Froude aus. Er erschloss Newman die Lehre von der Realpräsenz Christi in der hl. Kommunion, die Verehrung der Gottesmutter, und er „lehrte ihn die römische Kirche ebenso bewundern wie die Reformation zu verurteilen.”[15] Nach Froude’s Tod (1836) erbte er sein römisches Brevier und betete es von diesem Zeitpunkt an. Die Jahre in Oxford bis zum Beginn der Oxford-Bewegung waren gekennzeichnet von einem beständigen und kontinuierlichen Heineinwachsen in die Fülle des Credo, so dass Dessain zusammenfassend sagen kann: „Bis zum Ende des Jahres 1832 hatte Newman den ganzen Kreis der offenbarten Wahrheiten in ihrem wesentlichen Gehalt wieder entdeckt.”[16]

Diese Wiederentdeckung geschah nicht sprunghaft, unnatürlich oder antithetisch. Sie glich vielmehr einem Prozess des kontinuierlichen Wachsens und Reifens. Folgende Worte aus einer Predigt des Jahres 1839 geben wohl seine persönliche Lebenserfahrung wieder: „Gott scheint gerade heutzutage Seine Barmherzigkeit zu erweisen und … viele zur vollen Wahrheit zu führen, wie sie in Jesus ist; Er führt sie, und sie selbst wissen es nicht. Sie korrigieren und wandeln allmählich ihre Anschauungen und meinen doch, sie seien die gleichen geblieben. Andere sehen vielleicht, wie es mit diesen steht., sie selbst aber nicht; zur rechten Zeit werden sie es sehen. Das ist Gottes wunderbarer Weg.”[17]

3. Die Oxfordbewegung und die Frage nach der wahren Kirche (1833-1841)

Im Jahre 1833 kehrte Newman von einer Mittelmeerreise, die ihn durch eine heimtückische Krankheit auf Sizilien beinahe das Leben gekostet hätte, nach England zurück. Tiefer geläutert durch die erlittenen Schmerzen und Todesängste, betrat er wiederum englischen Boden, bewegt und gedrängt von der inneren Gewissheit, zu einem großen Werk in seiner Heimat berufen zu sein. Zusammen mit Pusey, Keble und anderen initiierte er die Oxfordbewegung in der Absicht, die anglikanische Kirche im Rückgriff auf die Väterzeit und die für alle christlichen Generationen exemplarische Bedeutung der frühen Kirche zu erneuern. Ausgehend vom dogmatischen, kirchlich-sakramentalen und anti-römischen Prinzip wollte man eine geistige Gegenströmung gegen den hereinbrechenden Liberalismus schaffen und der zu Kompromissen hinneigenden und durch Bürgerlichkeit geschwächten anglikanischen Kirche neue Lebenskraft geben, allerdings in klarer Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche.

Newman bemühte sich, die englische Kirche auf festeren theologischen Boden zu stellen und entwickelte die Theorie der „Via Media”. Er meinte, die römische Kirche hätte sich von der Kirche der Väter durch Zusätze und Irrtümer entfernt, die protestantische Kirche hingegen sei durch Verwerfung vieler Wahrheiten verarmt. In der englischen Kirche als einer „Via media” sei die wahre katholische Kirche bewahrt geblieben, sie bedürfe jedoch einer umfassenden inneren Erneuerung.

Newman geriet immer mehr in den Bannkreis der Kirchenväter. Ihre Gedanken drangen in seine Predigten und in die so genannten „Tracts” ein. Dies waren Flugschriften, durch die Newman und die anderen geistigen Führer der Oxford-Bewegung ihr Gedankengut verbreiteten. Die theologische Auseinandersetzung mit den Vätern brachten ihn der römischen Kirche Schritt für Schritt näher, ohne dass er sich dessen zunächst richtig gewahr wurde. Der Einfluss Newmans in Oxford und ganz England erreichte 1839 seinen Höhepunkt. Der Vorwurf des Papalismus blieb ihm nicht erspart, er war sich jedoch seiner Sache gewiss und meinte nach wie vor, dass die römische Kirche mit dem Antichristen verbunden sei.

Das Jahr 1839 brachte eine erste, zwar nur momenthaft dauernde, aber doch intensive Erschütterung seiner Theorie von der „Via Media”. Newman studierte den Monophysitenstreit des fünften Jahrhunderts. Er sah, dass es drei Parteien gab. Die Monophysiten unter Eutyches, weiters einige orientalische Kirchen, die eine Mittelstellung zwischen Rom und den Eutychianern einnehmen wollten, aber schließlich auch in der Häresie endeten, und die Position Roms. Newman zog nun mit großer geistiger Denkkraft die Parallele zu seiner Zeit: Die Monophysiten seien jetzt die protestantischen Kirchen, die gemäßigten Monophysiten die anglikanische Kirche und die Christen unter Papst Leo dem Großen die römische Kirche. Das Urteil der letzteren überdauerte die Zeiten. Die „Via media” von damals konnte sich nicht halten, sollte sie auch jetzt im Unrecht sein?
„Wer einen Geist gesehen hat, kann das nie mehr vergessen. Der Himmel hatte sich geöffnet und wieder geschlossen. Einen Augenblick lang kam mir der Gedanke: Die Kirche von Rom wird sich schließlich als die rechtmäßige erweisen; dann schwand er wieder. Meine alten Überzeugungen blieben die gleichen wie bisher.”[18] 1841 erschien dieser „Geist”, wie er sagt, zum zweiten Mal. Beim Studium der arianischen Wirren entdeckte er wiederum eine „Via media”, deren Dauer zeitlich begrenzt war. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass es in der Wahrheitsfrage keinen Mittelweg, keine Kompromissposition gibt.

Weitere Enttäuschungen folgten: Die Herausgabe von „Tract 90″ , in dem er sich um eine katholische Auslegung der 39 Artikel bemühte, um mit der römischen Kirche sympathisierende Anglikaner von der Konversion zurückzuhalten, stieß auf heftigen Widerstand von seiten der offiziellen anglikanischen Kirche. Newman beugte sich dem Druck von oben. In dieser Schrift vertritt er unter anderem die Auffassung, dass die katholische Kirche jetzt in der römischen, griechischen und anglikanischen Kirche verwirklicht sei (Zweigtheorie). Auf breiter Basis wurde diese Schrift diskutiert, Für und Wider standen in scharfem Gegensatz.

Heftiger Erregung und Ärger erfassten Newman, als die anglikanische Kirche der Errichtung eines Bischofsitzes in Jerusalem zustimmte, obwohl sich dort keine Mitglieder der anglikanischen Kirche befanden. Dieser kirchenpolitische, im Verbund mit der preußischen Kirche erfolgte Schachzug sollte bloß dem Einfluss Englands im Mittelmeerraum Geltung verschaffen. Newman erhob feierlichen Protest gegen diesen machtpolitischen Missbrauch der Religion, gegen die, wie er meinte, Protestantisierung und Entkatholisierung der anglikanischen Kirche. Das Vertrauen in die anglikanische Kirche war gebrochen. Rückblickend auf diese Zeit, schreibt er später: „Vom Ende des Jahres 1841 an lag ich, was meine Zugehörigkeit zur anglikanischen Kirche betrifft, auf dem Sterbebett, nur bemerkte ich es damals erst allmählich.” [19]

4. Das letzte Ringen

1841 zog sich Newman zusammen mit anderen Freunden nach Littlemore bei Oxford zurück, um durch Studium, Gebet und Fasten Klarheit zu erlangen. Da er seine eigenen Unsicherheiten nicht auf andere übertragen und ihre Gewissen nicht belasten wollte, legte er sein Amt in der Universitätskirche St. Mary nieder.

Newman ließ sich in den letzten Jahren vor seiner Konversion nicht von Ungeduld hinreißen, vielmehr erfüllte ihn die Bereitschaft, jedem Licht im liebenden Glaubensgehorsam zu folgen. In Treue zu diesem Prinzip, das ihn ein Leben lang begleitete, widerrief er 1843 öffentlich alle Anklagen gegen die römisch-katholische Kirche. Liebe und Hochachtung für Rom erfüllten schon sein Herz, der Schritt zur Konversion war jedoch noch nicht vollziehbar.

Zu Beginn des Jahres 1845 entschloss sich Newman, eine gründliche Studie zu verfassen, um eine endgültige Klarheit in der ihn so sehr bedrückenden Frage über die wahre Kirche und die „Zusätze” in der ihn so sehr bedrückenden Frage über die wahre Kirche und die „Zusätze” in der Lehre der römischen Kirche zu erlangen. Diese wissenschaftliche Abhandlung, die den Titel „An Essay on the Development of Christian Doctrine” erhielt, war das Ergebnis einer großen geistigen Anstrengung. Newman gelangte zur festen Überzeugung, dass die neueren römischen Lehren legitime Entfaltungen dessen waren, was in der frühen Kirche schon keimhaft angedeutet war. „Je weiter ich voranschritt, desto mehr klärten sich meine Schwierigkeiten auf, so dass ich aufhörte, von ‚römischen’ Katholiken zu sprechen und sie ohne Bedenken einfach Katholiken nannte. Ehe ich zu Ende kam, entschloss ich mich zum Übertritt.”[20] Die Frage der Konversion wurde für Newman zu einer Frage von Heil oder Unheil. „Die Frage lautete einfach: Kann ich (ganz persönlich, nicht ein anderer, sondern ich) in der englischen Kirche selig werden? Könnte ich noch in dieser Nacht ruhig sterben? Ist es eine Todsünde für mich, nicht einer anderen Gemeinschaft beizutreten?”[21]

Newman erlebte die Konversion wie einen Ruf Gottes in ein unbekanntes Land nach dem Beispiel von Abraham.[22] Viele Gründe sprachen gegen eine Konversion: das Erscheinungsbild der katholischen Kirche in England zu dieser Zeit; die Trennung von vielen Freunden und die Tatsache, dass er viele anglikanische Gläubige enttäuschen werde; der Schmerz darüber, dass er in vielen, die seiner pastoralen Sorge anvertraut waren, Ratlosigkeit, Unsicherheit und Unruhe erregen werde; die fehlenden Beziehungen zu Katholiken in England und die Unkenntnis ihrer konkreten religiösen Ausdrucksformen; die Angst, ob nicht alles eine Täuschung sei; die Überlegung, ob er vielleicht als reumütiger Revertit in die anglikanische Kirche zurückkehren werde.[23]

Newmans innerer Zustand war geprägt von Verzweiflung, von „Widerwillen und Unzufriedenheit”, von „ununterbrochener Qual”,[24] von der Angst vor den vielen Veränderungen, die die Konversion mit sich bringen werde, und von der Erfahrung, dass „seine Hand schwer auf mir”[25] lastete.
Newman befand sich in einem äußersten Kampf zwischen den sich widerstreitenden Gefühlen einerseits und dem Ruf des Gewissens andererseits. Die Argumente, die für oder gegen eine Konversion sprachen, lösten in seinem Inneren einen erbitterten und zugleich schmerzvollen Kampf aus. Bereits ein Jahr vor der Konversion bekannte er: „Wenn ich mich nicht irre, ist mein Hauptgrund, warum ich einen Übertritt ins Auge fasse, die tiefe, unwandelbare Überzeugung, dass unsere Kirche sich im Schisma befindet und dass mein Heil von der Vereinigung mit der römischen Kirche abhängt.”[26]

Nachdem er sich nicht länger der Wahrheit widersetzen konnte [27] und den einmaligen Anruf der Gnade Gottes [28] nicht ungehört vorbeiziehen lassen wollte, bat er den italienischen Passionistenpater Dominic Barberi am 9. Oktober 1845, ihn in die katholische Kirche aufzunehmen. [29]

Sein treuer Mitstreiter in der Oxford-Bewegung, E. B. Pusey, interpretierte seine Konversion mit folgenden Worten: „Unsere Kirche hat nicht vermocht, ihn zu nutzen. Und da dies so war, glich er einem scharfen Schwert, das in der Scheide ruht oder im Heiligtum aufgehängt bleibt, weil keiner es zu schwingen weiß… Er ist von uns gegangen, sich (wie alle großen Werkzeuge Gottes) dessen nicht bewusst, was er selbst ist. Er ist gegangen, wie aus einer schlichten Pflicht heraus, ohne an sich selbst zu denken, um sich völlig in Gottes Hand zu geben. Denn von solcher Art sind die Menschen, die Gott in Dienst nimmt.”[30]

II. Newman als Ratgeber der Konvertiten

1. Was ist eine Konversion?

In ehrfurchtsvoller Weise sprach Newman immer über das in seiner ersten religiösen Heimat Empfangene, das in der katholischen Kirche ergänzt, bereichert, gereinigt und vollendet wurde. „Diese Kirche hat dem einfachen evangelischen Glauben meiner ersten Lehrer etwas hinzugefügt, doch nichts davon verdunkelt, verwässert oder abgeschwächt – im Gegenteil, ich fand eine Kraft, eine Hilfsquelle, einen Beistand und Trost in der Gottheit und dem Sühneopfer unseres Herrn, in seiner realen Gegenwart, in der Teilnahme an Seiner göttlichen und menschlichen Person: Mittel, die alle guten Katholiken tatsächlich zu eigen haben, evangelische Christen jedoch nur in schwachem Maße.”[31]

Newman anerkannte das Wahre und Gute in jeder christlichen Konfession und in anderen Religionen. Den Zugang zu dieser positiven Sicht erwarb er sich bereits in der anglikanischen Zeit durch die Annahme der von Justin entwickelten Lehre vom „lógos spermatikós”. Die katholische Kirche, ein „Orakel der Wahrheit”[32], bewahrte jedoch „alle Wahrheit, die sonst wo zu finden ist, und noch mehr als alle, und nichts als Wahrheit.”[33]

Die Hinwendung zur katholischen Kirche beinhaltet einerseits ein Wiederfinden aller „zerstreuten” Wahrheit und ein Eintreten in die Fülle der Wahrheit, andererseits aber auch ein Verlassen der Irrtums und der Häresie.[34] In der Kirche Roms findet er die große Symphonie der Wahrheit, deren einzelne Töne in vielen religiösen Bekenntnissen vorhanden sind, wobei gerade die Verabsolutierung einzelner Wahrheiten und ihre Loslösung aus dem Ganzen das Wesen der Häresie ausmacht.

„Das katholische Glaubensbekenntnis ist zum größten Teil die Vereinigung voneinander getrennter Wahrheiten, die die Häretiker unter sich verteilt haben, wobei ihr Irrtum in dieser Trennung liegt.”[35] Newman ruft dazu auf, im Geist der Unterscheidung, in der Haltung des Respekts, aber auch ohne Verwischung das Gemeinsame und Trennende in der Wahrheitsfrage anzuerkennen, das die Grundlage des Dialoges mit anderen Konfessionen und Religionen bilden muss.

2. Ausgangspunkt und Vorbereitung auf die Konversion

Die Konversion bildet den Abschluss eines Weges, an dessen Beginn nicht eine menschliche Initiative, sondern der Ruf Christi steht.[36] Newman vergleicht sie auch mit dem Ruf, der an Abraham erging,[37] an anderer Stelle weist er sie dem Wirken des Heiligen Geistes zu.[38] Entscheidend ist ihre Rückbindung an den Willen Gottes, von dem sich ihr Recht und ihre Pflicht ableiten. Indem er einmal den Übertritt in die katholische Kirche mit dem Herrenwort vom Verlassen der Heimat und der angestammten Familie in Zusammenhang bringt, bewertet er einen solchen Schritt als eine besondere Berufung, die an einzelne ergeht. Dieses Verständnis liefert das entscheidende Kriterium, diesen Schritt von Seiten des Konvertiten zu unternehmen und von Seiten der Kirche anzunehmen.

Wenn also eine Konversion ihren Ursprung im Heilswillen Gottes hat, müssen jene Wege beschritten werden, die auch sonst die Erkenntnis des Willens Gottes ermöglichen. Der Weg vom ersten Berührtwerden durch Gottes Gnade, die in mildnötigender Weise schrittweise zur Konversion hindrängt, bis zum tatsächlichen Vollzug der Konversion, ist für Newman ein vielschichtiger und komplexer Weg. Grundsätzlich handelt es sich um einen Weg der Wechselwirkung zwischen Gnade und Freiheit. Zunächst gewährt Gott dem Konvertiten „Strahlen des Lichtes”, die eine gewisse Anziehungskraft zur katholischen Kirche ausüben und eine erste, unerwartete, oft nicht erwünschte und rational nicht erklärbare Gewissheit beinhalten können, dass die katholische Kirche die wahre Kirche ist.

„Zur Überraschung aller ihrer Bekannten, oft zur eigenen Überraschung fühlen sich Menschen, die die Kirche fürchten oder ihre Lehre verwerfen, durch irgendeine unbegreifliche Kraft Jahr um Jahr mehr zu ihr hingezogen, und schließlich übergeben sie sich ihr und verkünden ihre überragende Herrschaft. Solche, die nie mit einem katholischen Priester gesprochen, solche, die nie eine katholische Kirche betreten hatten, sogar jene, die ihre Religion aus der protestantischen Bibel gelernt haben, sind tatsächlich durch das Walten der göttlichen Vorsehung eben durch diese Lektüre dazu geführt worden, die Mutter der Heiligen anzuerkennen.”[39]

Der durch die ersten Lichtstrahlen berührte, aber auch beunruhigte Mensch soll sich dem beharrlichen Gebet zuwenden. Einem Rat suchenden Gläubigen schreibt er. „Wenn Sie ihn bitten, dass Er Sie die Wahrheit lehre, wird Er es tun, vielleicht langsam, aber sicher.”[40]

Neben dem Gebet soll sich der Konvertit auf intellektuellem Weg mit der Wahrheitsfrage auseinandersetzen.
Newman kommt immer wieder auf diese unaufgebbare Bedingung zu sprechen. „Seid überzeugt in eurer Vernunft, dass die katholische Kirche ein von Gott gesandter Lehrer ist: das genügt. Ich möchte nicht, dass ihr euch ihr anschließt, bevor ihr hiervon überzeugt seid. Seid ihr erst halb überzeugt, dann betet um die volle Überzeugung und wartet, bis ihr sie habt. Zwar ist es besser, schnell zu kommen, aber besser langsam als leichtsinnig.”[41]

Niemand soll sich der katholischen Kirche anschließen, der die Fülle ihrer Lehrverkündigung nicht annehmen kann. Wer nicht zur persönlichen Gewissheit gelangt, dass die katholische Kirche die Fülle der Wahrheit in sich birgt, soll in seiner bisherigen kirchlichen Gemeinschaft bleiben. Dies was der Fall bei Newmans hochgeschätztem und heiligmäßigen Freund. J. Keble.[42] An der Schwelle zur katholischen Kirche stehend, starb er mit dem Zeugnis eines guten Gewissens, auch wenn es, objektiv gesehen, im Irrtum war. Er bemühte sich während seines ganzen Lebens, aufrichtig und ehrlich die Wahrheit zu suchen und zu tun. Er nahm praktisch alle katholischen Glaubenswahrheiten an, erkannte aber trotzdem nicht die Notwendigkeit der Einheit mit dem römischen Bischof, dem Nachfolger des heiligen Petrus. Darum war er von seinem Gewissen her verpflichtet, im Anglikanismus zu verbleiben.

Die Schönheit der Liturgie der katholischen Kirche und die Betroffenheit davon ist zum Beispiel kein ausreichender Grund, der eine Konversion rechtfertigen würde. Wohl aber kann jemand in der Mitfeier der katholischen Liturgie den Ruf vernehmen, sich der Kirche Roms anzuschließen und zur Gewissheit gelangen, dass sie die wahre Kirche ist.

Auf dem Weg zur Konversion sammelt der Konvertit ein Argument nach dem anderen, das für den Eintritt in die katholische Kirche und das Annehmen ihrer Lehre spricht. Es kann auch sein, dass sich dem Konversionsanwärter unerwartet, ohne eine Initiative seinerseits, Motive und Einsichten durch das Wirken des Heiligen Geistes aufdrängen, die eine Konversion nahe legen. Die einzelnen Gründe verdichten sich gegenseitig und drängen den freien Willen zur Verwirklichung der Konversion. Der Wille wird aber nicht nur durch Vernunftgründe zur Tat aufgefordert, sondern auch von Seiten des Gewissens dazu eingeladen. Religiöse Entscheidungsprozesse schließen nach Newman notwendigerweise die Tätigkeit der Vernunft ein, dürfen sie keinesfalls ausschließen, sich aber auch nicht auf sie beschränken.

Der Weg zur Konversion erfordert in vielen Fällen auch das Streben nach sittlicher Erneuerung. Die Sünde übt nach der Lehre Newmans eine belastende Wirkung auf alle Seelenkräfte des Menschen aus. Sie schwächt den Willen, behindert die Fähigkeit des Menschen, die Wahrheit zu erkennen und anzunehmen, und verwirrt das Gefühlsleben. Auf dem Weg läuternder Umkehr und Bekehrung gelangt der Mensch dazu, die Weisungen der göttlichen Vorsehung, seines Willens und seiner Wahrheit zu erkennen und in die Tat überzuführen. Das Denken wird befreit von den Einflüssen der Konkupiszenz, der Wille wird geheilt von seiner Verteiltheit, die emotionalen Kräfte finden zu ihrer Harmonie zurück, und das Gewissen wird mehr und mehr als jenes leitende und von Gottes Licht erfüllte Prinzip anerkannt, das im Maße, als es zur Geltung kommt, die innere Einheit und Ausgeglichenheit des Menschen bewirkt.[43]

Die Bedingungen für eine Konversion beinhalten in einzelnen Fällen jedoch nicht nur negativ eine Abkehr und Distanzierung von der Sünde durch Reue und Buße, sondern in positiver Weise auch die Übung der christlichen Tugenden. Dazu zählt etwa die Beharrlichkeit im geduldigen Voranschreiten. „Ihr schaut auf und seht gleichsam einen großen Berg, den ihr besteigen sollt; da werdet ihr sagen: ‚Wie werde ich das wohl einen Weg finden können über diesen Berg von Hindernissen hinweg, denen ich auf meinem Weg zum Katholizismus begegne? Ich begreife diese Lehr nicht, jene macht mir Pein; eine dritte scheint mir unmöglich zu sein. Ich kann mich an diese Übung nicht gewöhnen, und ich fürchte mich vor einer anderen; alles ist wirr und trostlos; ich sehe mich einem Zustand von Verzweiflung preisgegeben.’ Sprecht nicht so, meine Brüder, blickt auf in Hoffnung, vertraut auf den, der auch vorwärts führt.”[44]

Wissend um seinen persönlichen, jahrelangen inneren Kampf, ruft er die Konvertiten zu geduldigem Warten, aufrichtigen und ehrlichem Suchen und einem tiefen Vertrauen auf die göttliche Vorsehung auf.
Er warnt davor, den Weg der Konvertiten in ein Schema zu pressen. Jeder Konvertit muss individuell begleitet werden. Newman spricht von großen Unterschieden im Blick auf die Zeit des Konversionsweges, die ausschlaggebenden Gründe und Argumente, die Art und Weise, wie sich die einzelnen Bewerber vorbereiten sollen.

„Einige bekehren sich schon, wenn sie eine katholische Kirche betreten, andere bekehren sich durch die Lektüre eines einzigen Buches, andere durch eine einzelne Lehre. Sie empfinden die Last ihrer Sünden und erkennen, dass jene Religion von Gott kommen muss, die allein die Mittel zur Sündenvergebung besitzt, oder sie werden ergriffen und überwältigt durch die offensichtliche Heiligkeit, Schönheit und (ich möchte sagen) würzige Luft der katholischen Religion. Oder sie tragen Verlangen nach einer Führung in der Sprachverwirrung, und gerade die Lehre der Kirche vom Glauben, die für manche so schwer fassbar ist, bringt sie zur vollen Überzeugung. Andere wiederum hören viele Einwürfe gegen die Kirche und gehen der ganzen Frage in ihrer Länge und Breite nach.”[45]

Die Begleiter von Konvertiten sind verpflichtet, im Geist der Unterscheidung und in gläubiger Haltung dem Plan Gottes für jeden einzelnen zu dienen.

Wer zur Kirche kommt, soll in der Haltung der Demut kommen. Newman verwirft die Möglichkeit eines Eintrittes „ad experimentum”. Wer sich nicht in der Haltung der Ergebenheit in die Kirche hineinbegibt, dem empfiehlt er, weiter zu warten. Niemand soll sich ihr anschließen, um zu kritisieren, sondern um zu empfangen und zu hören.

Newman warnt davor, die „Chance zu Konversion”[46] zu verlieren. In seinen seelsorglichen Briefen bricht immer wieder die Sorge auf, dass gläubige Menschen den Tag der Konversion, der ein „Tag der Rettung”[47] ist, ungenützt vorübergehen lassen könnten. Newman bestreitet nicht die Tatsache, dass Menschen außerhalb der katholischen Kirche das Heil empfangen können. „Die heilbringende Gnade gibt es auch außerhalb der katholischen Kirche – jedoch nicht für jene, die sich nicht in unüberwindlicher Unwissenheit befinden und guten Glaubens sind. Manche Seele wird gerettet, auch wenn sie nicht zum sichtbaren Leib gehört.”[48]

Wer jedoch von Gott gerufen wird, seine Kirche zu verlassen, und mit diesem Ruf auch die dafür notwendige Gnade der Einsicht empfangen hat, muss sich im Glaubensgehorsam dem Willen Gottes unterwerfen. „Es ist völlig richtig: Wenn jemand überzeugt ist, dass er kein Glied der katholischen Kirche ist und dass die Gemeinschaft von Rom diese Kirche ist, dann ist er verpflichtet, sich ihr sofort zu unterwerfen, und um Aufnahme zu bitten.”[49] Niemand kann sich der Erwählung zur Konversion ohne Schuld, im Ernstfall sogar unter Verlust des ewigen Heiles, entziehen.[50]

3. Einwände gegen die Konversion

Das menschliche Leben vollzieht sich für Newman im Spannungsfeld zwischen der anziehenden Kraft der göttlichen Gnade und den verlockenden Versuchungen Satans. Der dramatische Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen dem Tun des Willens Gottes oder dem des Eigenwillens, geht auch jeder Konversion voraus. Deshalb kommt Newman auch auf „die Einflüsterung des bösen Feindes, der euch zurückhalten will” zu sprechen, und er weiß um die „Versuchungen… die der Teufel… in den Weg streut”[51], unmittelbar bevor der Konvertit seinen entscheidenden Schritt tun soll. Gründe, die von einer Konversion abhalten können, sind zum Teil äußerer Natur, wie zum Beispiel die Tatsache, dass der Konvertit seinen Familienangehörigen einen großen Schmerz zufügt. „Sie sagen, dass Sie durch ihren Schritt Ihren Verwandten und Freunden Leid zufügen werden -ja-das ist die Prüfung, durch die wir alle hindurchgehen müssen…. Aber Gott wird Ihnen in jeder Prüfung, die er Ihnen auferlegt, beistehen.”[52]

Ein anderes Hindernis kann die Tatsache sein, dass das schwache menschliche Element die göttliche Dimension der Kirche oft verdunkelt und in den Hintergrund treten lässt. Dieses Argument darf jedoch nicht Anlass sein, den Schritt zur Konversion nicht zu tun. „Ich gebe dann auch die Existenz jener Flut des Bösen zu,… woran Sie in der sichtbaren Kirche Anstoß nehmen; wenn dies aber meinen Glauben an den göttlichen Ursprung der katholischen Lehre erschüttern würde, müsste es aus demselben Grunde auch meinen Glauben an die Existenz eines persönlichen Gottes und Herrschers im Bereich des Sittlichen berühren. Die entscheidende Frage für mich ist nicht, was an Bösem noch in der Kirche ist, sondern was sie an Gutem anregt und konkret vollbracht hat.”[53]

Bedrückender als „äußere” Hindernisse können solche sein, die mehr „innerer” Natur sind. Hier sind es vor allem Zweifel, die die Willenskraft ermatten lassen, die Konversion zu tätigen. Newman unterscheidet zwei Arten von Zweifeln. Es gibt intellektuelle Zweifel, die die Tatsache des göttlichen Ursprungs der Kirche als unsicher erscheinen lassen. Solche Zweifel können nur durch weiters Studium und Nachforschen, begleitet von Gebet und moralischer Umkehr, beseitigt werden. Wer diesen Weg treu und beharrlich geht, gelangt zur Überzeugung und Gewissheit von der göttlichen Autorität der Kirche. Solchen intellektuellen, vor einer Konversion zu überwindenden Zweifeln stehen moralische Zweifel gegenüber, die erst durch die Konversion beseitigt werden. Über Konvertiten, die von solchen moralischen Zweifeln geplagt werden, sagt Newman: „Sie bedenken nicht, dass ihre jetzigen Zweifel moralischer, nicht intellektueller Art sind: ich meine so: sie zweifeln nicht wirklich an der Wahrheit der gewonnenen Schlussfolgerung, dass die katholische Kirche von Gott stammt – das bezweifeln sie in ihrer Vernunft überhaupt nicht, es ist vielmehr das, dass sie nicht die Kraft und die Unbefangenheit haben diese Wahrheit zu ergreifen und festzuhalten.”[54] Die letzte Stufe eines Konversionsweges bildet nicht ein schlussfolgernder Vernunftakt, begleitet von einer angenehmen, emotionalen Stimmung, sondern ist ein Akt des freien Willens, vollzogen im Glauben, wobei ihm der Charakter des Wagnisses anhaftet,[55] ruhend auf einer festen Überzeugung und ermöglicht durch die Gnade Gottes.[56]

Bevor der Konvertit diesen letzten Schritt tut, kann ihn eine schwer zu erfassende und rational kaum zu begründende Unsicherheit bedrängen, ein Zweifel, der lähmend wirkt. Dazu fügen sich Gefühle, die eine Konversion als beinahe unmöglich, über die menschliche Kraft hinausgehend erscheinen lassen. Gläubigen, die sich in dieser Situation befinden, sagt Newman, „dass alle ihre Zweifel verschwinden werden, sobald sie den Eintritt in die Gemeinschaft der Heiligen und die Atmosphäre der Gnade und des Lichtes vollzogen haben, und dass sie eine solche Fülle des Friedens und der Freude erleben werden, dass sie nicht wissen, wie sie Gott genug dafür danken sollen; ja, dass sie sich einfach aus dem Drang ihrer Gefühle und aus der Notwendigkeit, ihnen den Weg freizugeben, sich daran begeben werden, andere zur Konversion zu bringen mit einem plötzlichen Eifer, der in merkwürdigem Kontrast zu der bisherigen Wankelmütigkeit steht”[57]. Als Hilfsmittel, um die letzten „Höhenmeter” des Konversionsweges zu meistern, die vielfach in den „dichten Nebel der Angst und Ratlosigkeit” eingehüllt sind, empfiehlt Newman das Beispiel derjenigen, die vor derselben Situation gestanden, aber inzwischen den inneren Frieden in der katholischen Kirche gefunden haben. „Stützt euch auf die Erfahrung jener, die vor euch denselben Weg beschritten haben. Auch sie hatten, ehe sie den großen Schritt getan haben, viele Bedenken, ob ihr Glaube nicht versagen würde; aber diese Bedenken schwanden dahin, als sie ihn taten.”[58]

4. Aufgabe von Konvertitenbegleitern und der Gesamtkirche


Wenn Gottes Gnade Mitglieder anderer Konfessionen in die katholische Kirche ruft, dann obliegt auch ihr eine hohe Verantwortung. Mangelnde Vorbereitung von Konvertiten, leichtfertige oder übereilte Aufnahme, unlauteres Werben und Überreden zur Konversion, aber auch ein falsches Abraten von einer Konversion würden dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Konvertiten zu begleiten, erfordert ein gründliche Kenntnis der katholischen Glaubenswahrheiten und ihrer Gegenpositionen, Einfühlungsvermögen, Geduld, Festigkeit und andere Tugenden geistlicher Führung sowie die Bereitschaft, durch Gebet und ein reifes Glaubenszeugnis dem Konvertiten den Weg in die Kirche zu erleichtern und zu ebnen.

Niemals darf dem Betreffenden die Entscheidung abgenommen oder aufgedrängt werden. In einem seelsorglichen Brief schreibt Newman: „Ich sage Ihnen all dies, damit Sie sehen, warum ich Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen kann, so gerne ich es auch tun möchte. Wünschen freilich möchte ich Ihre Konversion, jetzt, sofort. Aber wenn Sie mich fragen, was Ihre Pflicht ist, dann kann ich nur sagen, dass ich in manchen Fällen mit jenem Vater übereinstimmen würde, der seinen Sohn drängte, die Aufnahme zu verschieben, in einem anderen Fall würde ich es wiederum nicht tun.”[59]

Konvertit und Konvertitenbegleiter sollen sich auf einen gemeinsamen Weg im Angesicht Gottes begeben, bereit und offen, den Willen Gottes zu erkennen und zu tun, die dafür von menschlicher Seite aus notwendigen Vorbedingungen zu schaffen und den „kairos” der Konversion nicht übereilt herbei zu zwingen, noch ungenützt vorüberziehen zu lassen.

Newmans katholische Zeit war geprägt von vielen leidvollen Erfahrungen. Nachdem er seine geliebte anglikanische Kirche verlassen hatte, wurde er in der katholischen Kirche mit verschiedenen Ausdrucksformen geistlicher Unreife konfrontiert. Über die katholische Kirche sagt es: „Ich gestehe ein, dass sie nicht soviel Gutes getan hat, wie sie getan haben könnte. Ich gestehe ein, dass sie in ihrem Handeln, das menschlich ist, eine günstige Zielscheibe für Kritik oder Tadel darstellt. Doch was ich weiterhin behaupten will, ist dies, dass sie unberechenbar viel Gutes bewirkt hat, dass sie Gutes von besonderer Art wirkte wie kein anderes Gemeinwesen, keine andere Lehre oder Religion.”[60]

Aus diesem Grund hat sich Newman intensiv der Aufgabe hingegeben, die Kirche von innen her zu erneuern und ihr jene übernatürliche und geistliche Strahlkraft zu verleihen, die sie befähigt und berechtigt, Konvertiten zu empfangen. „Nicht Konversionen sind das Erste, sondern die Erbauung (die Stärkung) der Katholiken. So sehr habe ich mir das letztere zum Ziel gesetzt, dass die Welt bis heute bei der Behauptung verharrt, ich empfähle den Protestanten nicht, katholisch zu werden. Wenn ich als meine wahre Meinung geltend machte: ich schreckte davor zurück, aus gebildeten Menschen übereilte Konvertiten zu machen, aus Furcht, sie könnten ‚die Kosten nicht berechnet’ haben und könnten nach ihrem Eintritt in die Kirche Schwierigkeiten bekommen, so gebe ich damit nur das gleiche zu verstehen, dass die Kirche ebenso für die Konvertiten bereitet werden müsse, wie die Konvertiten für die Kirche.”[61] Newman wendet sich gegen die zu seiner Zeit in der Kirche teilweise verbreiteten Meinung, dass „Konvertiten-machen etwas tun, und keine machen ‚nichts tun’„[62] bedeutet.

Newman tritt vielmehr in prophetischer Schau für den vom Zweiten Vatikanischen Konzil angeregten „geistlichen Ökumenismus” ein, der eine entschiedene Erneuerung des ganzen Gottesvolkes fordert.
Eindringlich mahnt Newman auch vor der Gefahr, die Konvertiten nur bis zur Konversion zu begleiten und sie dann in der schwierigen Phase des Einlebens in die katholische Glaubenswelt mit ihren spezifischen Riten und religiösen Ausdrucksformen allein zu lassen. Dies würde eine Verletzung der christlichen Liebe bedeuten. „Es gibt Menschen, die andere lediglich zur Konversion bringen wollen und dann die armen Konvertiten sich selbst und der Tragweite ihres momentanen religiösen Wissens überlassen. Gerade das Gegenteil ist von so großer Bedeutung; ich nenne es ‚das ganze Niveau heben’ (levelling up). Wenn wir Seelen zu ihrem Heil bekehren sollen, müssen sie die entsprechende Vorbereitung des Herzens haben…”[63]

Bei Newman kann man lernen, was es heißt, in Liebe auf die getrennten Glaubensbrüder zuzugehen. Als Beispiel sei hier ein Briefausschnitt an seinen geistlichen Freund und ehemaligen Mitstreiter in der Oxford-Bewegung, J. Keble, angeführt: „An Sie denke ich immer mit Ehrfurcht und Liebe. Es gibt nichts, was ich mehr liebte als Sie … und viele andere, die ich nennen könnte, außer ihm den ich vor allem und über alles lieben sollte. Möge Er selbst, der überreicher Ersatz für alle Verluste ist, mir seine eigene Gegenwart gewähren; dann werde ich nichts entbehren und verlangen; doch er allein kann mich für den Verlust dieser alten, vertrauten Gesichter entschädigen, die mir beständig vor Augen kommen.”[64]

Newmans Einsatz für die Konvertiten ist geprägt von seinem Respekt vor dem Gewissenszustand des einzelnen und der Bereitschaft, als weiser Ratgeber mit jedem auf dem Weg zu gehen. Fern jeder dogmatischen Prinzipienlosigkeit nimmt die Wahrheitsfrage den zentralen Platz ein. Zugleich umfängt er die Konvertiten mit jener christlichen Wärme, Herzlichkeit und Würde, durch die der Weg in die Kirche erleichtert und ermöglicht wird.

In einer seiner anglikanischen Predigten sagte er: „Es ist ein ebenso großer Fehler, ohne Berufung zu handeln, wie der Berufung zu widerstehen.”[65] Diese christliche Lebensforderung gilt auch für die Konversion und bestimmte seinen Einsatz für die Konvertiten.

Peter Willi promovierte 1992 an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck mit der Arbeit, „Sünde und Bekehrung in den Predigten und Tagebüchern John Henry Newmans.” Die Dissertation wurde 1993 im EOS-Verlag, Erzabtei St. Ottilien, veröffentlicht.

P. Willi ist der international Verantwortliche für die Priestergemeinschaft des „Werkes”.


[1] H.J. Coleridge, A Father of Souls, in: The Month 70 (1890) 161. [2] John Henry Newman, Apologia pro vita sua (Ausgewählte Werke I); Mainz 1951, 21f.; künftig zitiert mit: A.
[3] Thomas Scott, Force of Truth, zitiert von Newman in: A 24.
[4] Vgl. John Henry Newman, Selbstbiographie nach seinen Tagebüchern, Stuttgart 1959, 220; künftig zitiert mit: SB.
[5] SB 260f. (Hervorhebung durch Newman; künftig zitiert mit N.)
[6] Den Prozess des schrittweisen Erfassens der Wahrheit beschreibt Newman kurz vor seiner Konversion mit den Worten: „[Es gibt] eine Wahrheit; es gibt nur eine Wahrheit. … Die Suche nach der Wahrheit ist nicht Befriedigung der Neugierde; ihre Aneignung birgt nichts vom erregenden Reiz einer Entdeckung in sich; der menschliche Geist steht unter der Wahrheit und nicht über ihr; er ist verpflichtet, nicht großspurig über sie zu reden, sondern sie zu verehren; Wahrheit und nicht über ihr; er ist verpflichtet, nicht großspurig über sie zu reden, sonder sie zu verehren; Wahrheit und Unwahrheit sind vor uns hingestellt zur Prüfung unserer Herzen. Unsere Wahl ist ein furchtbares Hingeben von Losen, auf denen Heil oder Verwerfung geschrieben steht; es ist ‚vor allem notwendig, den katholischen Glauben zu bewahren’; der, der ‚gerettet werden will, muss so denken’ und nicht anders…; das ist das dogmatische Prinzip, welches Kraft besitzt.” (An Essay on the Development of Christian Doctrine (1845), Westminster, Md., 1968, 356f in: J. H. Card. Newman, Das Mysterium der Kirche, Rom 1981, 26; künftig zitiert mit: Myst.).
[7] John Henry Newman, Deutsche Predigtausgabe (DP), Bd. I-XI, Stuttgart 1948-1962, VIII, 117.
[8] DP I, 256.
[9] John Henry Newman, Zur Philosophie und Theologie des Glaubens (Ausgewählte Werke VI), Mainz 1964, 338; künftig zitiert mit G.
[10] A 25.
[11] A 22.
[12] SB 259.
[13] W. Becker, Newman und die Kirche, in: Newman Studien I, 238 (hsg. v. H. Fries und W. Becker).
[14] John Henry Newman, Polemische Schriften (Ausgewählte Werke IV), Mainz 1959, 19.
[15] A 45.
[16] Ch. St. Dessain, John Henry Newman. Anwalt redlichen Glaubens. Leipzig 1980, 72.
[17] DP VI, 114f.
[18] A 144f.
[19] A 177.
[20] A 271.
[21] A 268 (Hervorhebung durch N.).
[22] Vgl. LD XIII, 371, The Letters and Diaries of John Henry Newman, edited at the Birmingham Oratory by l. Ker and Th. Gornall (Vol I-VI) and Ch. St. Dessain (Vol XI-XXXI), Oxford, 1961-1977.
[23] Vgl. A 264-270.
[24] A 264f.
[25] A 270.
[26] A 265.
[27] Vgl. LD XIV, 38f.
[28] Vgl LD XXV, 353.
[29] Die intensiven Erfahrungen in der letzten Zeit vor der Konversion bilden den Hintergrund einer Predigt in der er ausführlich die Frage der Konversion behandelt: „Und welche Seligkeit, wenn wir auf die Zeit der Prüfung zurückblicken können, da die Freunde uns beschworen und die Feinde über uns spotteten, und wir dann sagen können: Wie elend wäre ich gewesen, wenn ich nicht gefolgt hätte und zurückgeblieben wäre, als Christus mich rief! Welch äußerste Beschämung des Geistes, welch ein Schiffbruch im Glauben und in der Anschauung, welch schwarzes Dunkel und welche Leere, welch trauriger Skeptizismus, welche Hoffnungslosigkeit wären mein Anteil gewesen -, der Anfang der kommenden äußersten Finsternis, wäre ich zaghaft gewesen, ihm zu folgen! Ich habe zwar Freunde verloren, ich habe die Welt verloren; aber ich habe ihn gewonnen.” (G 347).
[30] H. P. Liddon, Life of Edward Bouverie Pusey, London 1893, II, 461.
[31] LD XXXI, 189 (dt. in: Myst. 180)
[32] John Henry Newman, Entwurf einer Zustimmungslehre (Ausgewählte Werke VIII), Mainz 1961, 106.
[33] A.a.O., 174.
[34] Während seines Romaufenthaltes 1846-1847 besuchte Newman die Benediktinerabtei Monte Cassino und schrieb in das dortige Gästebuch: „O Sancti Montis Cassinensis unde Anglia nostra olim saluberrimos Catholicae doctrinae rivos hausit, orate pro nobis jam haeresi in pristinum vigorem expergescentibus” (LD XII, 111, Anm. 3).
[35] John Henry Newman, Discussions and Arguments on Various Subjects, London 1888, 200, dt. Myst. 61.
[36] Vgl. G. 437.
[37] Vgl. LD XIII, 371.
[38] Vgl. LD XXVII, 110.
[39] DP X, 74.
[40] LD XXV, 13; dt. Myst. 167.
[41] G 345.
[42] Vgl. LD XXII, 209.
[43] Vgl. dazu die Aufrufe an anglikanische Gläubige in G 331.
[44] G 331.
[45] G 345.
[46] Vgl. G 346f.
[47] Vgl. LD XXVIII, 413; XXVIII, 332.
[48] LD XXVIII, 129 (Hervorhebung durch N.); dt. Myst. 163f.
[49] LD XXVII, 58; dt. Myst. 172.
[50] Vgl. LD XI, 71; XXIII, 347.
[51] G 344-346.
[52] LD XI, 71 (Hervorhebung durch N.); dt. Myst. 173.
[53] LD XXVII, 261; dt. Myst. 176.
[54] DP XI, 213.
[55] Vgl. LD XII, 168; XXVIII, 332.
[56] Wie müssen wir, meine Brüder, Gott danken, dass er uns zu dem gemacht hat, was wir sind! Es ist Gnade! Gewiss, er gibt viele zwingende Gründe, die einen zum Anschluss an die katholische Kirche führen, aber sie zwingen den Willen nicht.” (G 330)
[57] DP XI, 214.
[58] G 344f
[59] LD XXXI, 108 (Hervorhebung durch N.), dt. Myst. 162f.
[60] LD XXVII, 283; dt. Myst. 190.
[61] SB 335.
[62] SB 334.
[63] LD XXV, 3 (Hervorhebung durch N.) dt. Myst. 163.
[64] LD XX, 503 (Hervorhebung durch N.) dt. Myst. 174.
[65] DP IX, 146.


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