29.8.18
Macht und Ohnmacht des Politischen
Vor mittlerweile 15 Jahren veröffentlichte der britische Politikwissenschafter Colin Crouch seinen Bestseller "Postdemokratie". Crouch hat diesen Begriff zwar nicht erfunden, aber doch geprägt und einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Politik würde in den demokratischen Staaten zu einer Inszenierung verkommen, so seine These. Längst würden die Wirtschaftseliten hinter verschlossenen Türen alle wichtigen Entscheidung treffen.
Die postdemokratischen Parteien der politischen Mitte seien kaum noch voneinander zu unterscheiden - weder in Bezug auf Inhalte noch in Bezug auf ihre Rhetorik. Mehr oder weniger ideologiefrei würden sich sowohl Konservative als auch Sozialdemokraten den "Sachzwängen" der Wirtschaft unterwerfen. Politik, im Sinne von Aushandlungsprozessen zwischen Interessensgruppen, würde immer mehr einer "Postpolitik" weichen.
In Zeiten von Wahlkämpfen kontrollieren die PR-Strategen und Spin Doktoren der Parteien die Themensetzungen. Durch emotionale Scheindebatten solle der Wählerschaft vorgegaukelt werden, sie hätte etwas mitzubestimmen. Die Folge sei Apathie und Politikverdrossenheit in der Bevölkerung, so Crouch.
Seither ist viel geschehen: Die Welt hat eine schwere Finanzkrise und eine Flüchtlingskrise erlebt, rechts- und linkspopulistische "Anti-System-Parteien" feierten Wahlsiege, Donald Trump wurde Präsident der Vereinigten Staaten, die Briten verlassen die EU. Das Vertrauen der Bürger/innen in das System der repräsentativen Demokratie scheint quer durch alle Gesellschaftsschichten zu sinken. Der "Wutbürger" hat die politische Bühne betreten.
Nicht zuletzt sind durch Digitalisierung und Social Media völlig neue Möglichkeiten entstanden, die Meinung von Wähler/innen zu beeinflussen. Stichwort Fake News, Facebook-Datenskandale und Filterblasen. Das Netz schafft für uns maßgeschneiderte, individualisierte Parallelwelten. Dort werden Meinungen in erster Linie bestärkt, und andere Sichtweisen eher ausgeblendet. Ein Radiokolleg über Postdemokratie und Postpolitik im postfaktischen Zeitalter.
LITERATUR:
Ingolfuhr Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, edition suhrkamp (2013)
Jason Brennan, Gegen Demokratie - Warum wir Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Ullstein, 2017
Colin Crouch, Postdemokratie, Suhrkamp (2003)
Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II, Suhrkamp (2011)
Adrienne Fichter (Hrsg.), Smartphone-Demokratie, NZZ Libro (2017)
Yvonne Hofstetter, Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt, Penguin Verlag (2016)
Marc Uwe Kling, Quality Land, Ullstein (2017)
Roman Maria Koidl, Warum wir Irre wählen. Hoffmann und Campe Verlag (2017)
Robert Misik, Liebe in Zeiten des Kapitalismus, Brandstätter (2018)
Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, Droemer (2018)
Philippe Narval: Die freundliche Revolution. Wie wir gemeinsam die Demokratie retten. Molden Verlag. Wien (2018)
Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Suhrkamp (2014)
David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Wallstein (2016)
LINKS:
Rimini Protokoll
The World Economic Forum
SORA
Progressives Zentrum - Studie: Rückkehr zu den politisch Verlassenen
Springer Link - Studie: "Dem Deutschen Volke? Die ungleiche Responsivität des Bundestags"