1.4.15

 

Was blieb vom alten Reich?

Ist heute noch von Bedeutung, „was vom Alten Reiche übrig blieb“? Soll – abgesehen von Experten oder Geschichtsliebhabern – Menschen des 21. Jahrhunderts interessieren, ob ihre Stadt vor Jahrhunderten Freie Reichsstadt war oder einem geistlichen Territorium angehörte? Wie viele haben überhaupt noch eine Vorstellung dieses 1806 untergegangenen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“?

Wissen um Geschichte droht zunehmend zu einer Sache kleinerer Bildungseliten zu werden. Es erklärt sich zwar auf der einen Seite von selbst, dass die im „global village“ lebenden Menschen mit Herausforderungen konfrontiert sind, die nicht unbedingt Muße für geisteswissenschaftliche Studien mit sich bringen, und dass viele – bedingt durch eine moderne Arbeitswelt, die bedingungslose Flexibilität und Mobilität abverlangt – sich schlicht weniger mit ihrer Herkunftsregion und deren Geschichte befassen. Gleichzeitig verrät indes eine Flut an medialen Angeboten, dass es ein Bedürfnis nach Wissen um das eigene Herkommen gibt und dass Geschichte an sich nach wie vor eine große Faszination ausübt – dies ist ablesbar an dem großen Spektrum aufwändig gestalteter Fernsehformate, in denen zur besten Sendezeit gerne auch auf emotionalisierende Szenen im Stile des „Sandalenfilms“ gesetzt wird, bis hin zur Adventure-Flachware, in der Geschichte auf eine karnevaleske „Herr-der-Ringe“-Ästhetik reduziert wird.

Geschichte, und auch die Geschichte des (in Abgrenzung zu dem 1871 gegründeten deutschen Kaiserreich so titulierten) „Alten Reiches“, ist präsent. Wer mit offenen Augen durch seine Lebenswelt geht, kann die Hinterlassenschaften dieser Vergangenheit entdecken. Gerade in Städten verdichten sich diese Spuren zu einem geschichtlichen Text, in dem sich Jahrhunderte überlagern wie auf einem Palimpsest, das immer neu beschrieben wird. Sie sind häufig nur noch von Experten auffind- oder entzifferbar und bedürfen der „Übersetzung“. Dabei geht es nicht nur um den Reichsadler auf einem Kanaldeckel oder in einem Wappen, wie etwa im Falle der ehemaligen Reichsstädte Nürnberg oder Kempten, sondern auch um mentale und kulturelle Prägungen, die von Generation zu Generation tradiert werden und Identitäten ausmachen.

Das Alte Reich mit seiner komplexen Entwicklung von den nicht exakt fassbaren Anfängen (die manche mit der Konsolidierung des ostfränkischen Reichs im 9. Jahrhundert, andere mit der Herrschaft der Ottonen im 10. Jahrhundert ansetzen) bis zur Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. am 6. August des Jahres 1806, mit seinen Beharrungs- und Reformkräften, mit seinen spezifischen Antagonismen von kaiserlicher Zentralmacht und fürstlich-territorialen Machtansprüchen, seiner Kriegs- und Friedensgeschichte, dem Ringen um religiöse und kulturelle Identitäten, war immer ein zentraler Bezugspunkt für unterschiedlichste Geschichtsbilder. Der riesige Bildersaal dieses Reiches, das seit der Stauferzeit das Attribut des „Heiligen“ und seit dem 15. Jahrhundert den Zusatz „Deutscher Nation“ führte, dient bis heute als positive wie negative Projektionsfläche. So etwa im 19. Jahrhundert für die Idee des deutschen Nationalstaats kleindeutscher Lesart, nach der die habsburgische Dominanz im Alten Reich eher als Fremdherrschaft interpretiert wurde und nach der das preußisch dominierte, sogenannte „zweite Reich“ als eine Art „bessere Wiederbegründung“ seines Vorgängers apostrophiert werden konnte. Auch die Nationalsozialisten übertrugen ihre Geschichtssemantik auf selektive Teilaspekte der gleichen Bezugsfläche, indem sie sich mit der Formel des „Dritten Reichs“ direkt in die Kontinuität dazu stellten und damit das Alte Reich gleichsam als Prototypen eines Imperiums sahen, das die vermeintliche Überlegenheit des Germanentums bereits verkörpert habe. Für den demokratisch-föderativen Erinnerungs- und Geschichtshaushalt der Bundesrepublik bietet das Alte Reich – allerdings in denkbar krassem Gegensatz zu der nationalsozialistischen Deutungsvariante – einige Ansatzpunkte: Der jahrhundertübergreifende Prozess der Reichsreformen ab 1495 etwa, wo mit der Einführung des zunächst in Frankfurt angesiedelten Reichskammergerichtes, der Reichskreise und später, ab 1663, dem „Immerwährenden“ Reichstag in Regensburg Gegengewichte zur kaiserlichen Machtfülle geschaffen wurden, ist ein Beispiel für ein reformfähiges bundesstaatliches Modell, das bis 1806 eine relative Eigenständigkeit und Diversität seiner Einzelterritorien zugelassen hatte. Der heutige Bundesrat, dessen legislative Kompetenz vielfach als typisches Blockadeinstrument im politischen Prozess und als unzeitgemäßes Element der „Kleinstaaterei“ angegriffen wird, garantiert in dieser Tradition gerade nach der nationalsozialistischen Barbarei als „zweite demokratische Herzkammer“ diese Tradition föderativer Gewaltenteilung.

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