15.9.15

 

Welt aus den Fugen

Eine Welt scheint aus den Fugen. Im Jahr 2008 wurde das globale Finanzsystem erschüttert, dann bebte die Eurowährung. Aus dem arabischen Frühling 2011 wurde kein Sommer der Demokratie und der Freiheit, sondern es folgten Staatenzerfall und IS-Terror. Die Vereinigten Staaten und Europa sind reich, aber politisch wirken sie gelähmt. Nicht nur spontane Flüchtlingsströme machen Europa zu schaffen. Organisierte Schleuserkriminalität und familiäre Netzwerke testen ein Schengen-System, das auf schönes Wetter der Warenströme und Touristen ausgelegt ist. Der russische Präsident Putin schwächt seine Wirtschaft, bedroht Nachbarn, will sich womöglich als neue militärische Ordnungsmacht in Stellung bringen. Die Eliten Europas bangen um das große Projekt der politischen Union, die bei aufkeimendem Populismus in den Staaten manchmal wie die einst berühmte Dame ohne Unterleib wirkt. Handfeste nationale Egoismen sind zurück, auch dort, wo Reformvorschläge für eine Transferunion gemacht werden.

Eines zeichnet jedenfalls jene neue, dezentralisierte, in verschiedene Verständigungshorizonte fragmentierte und dann als Schwarmtendenz doch wieder global verbundene "öffentliche Meinung" aus: Man diskutiert nicht so sehr miteinander, sondern prangert an, beschuldigt, verurteilt. Moral, Angst und Wut docken an bestimmte Begriffe und Positionen an. 

Man kann politisch diagnostizieren, dass sich Europa mit Schengen und Dublin selbst eine Falle gestellt hat. Die Verwirklichung der Idee, Binnengrenzen nicht nur als Zollgrenzen, sondern auch für Personenkontrollen abzuschaffen, setzte ihr Vertrauen darauf, dass diese Funktionen ja an der Außengrenze der Union wahrgenommen werden. Doch das nationale Interesse der Grenzstaaten, die Außengrenze der Union zu überwachen oder Zugänge zu verweigern, schwindet, wenn man Einwanderungswillige unregistriert in Länder mit hoher Migrationsattraktivität "durchleiten" kann. Sollten die Migrationsströme anhalten oder sich verstärken, kann dieser Zustand nicht von Dauer sein, ohne das Fundament Europas und die Funktionsfähigkeit sozialer Rechtsstaaten zu gefährden.

Dabei sind blanke Zahlen nicht alles, es geht auch um Mentalitäten und soziokulturelle Prägungen sowohl der Einwanderer wie der aufnehmenden Gesellschaft. Ein aktives Einwanderungsland muss umso mehr auf die Einhaltung von rechtlichen Wegen bestehen, sollte also nicht den Rechtsstaat mitsamt seinen Statusdifferenzierungen und Verfahren aktionistisch über Bord werfen. Die deutliche Sichtbarmachung unserer freiheitlichen, gleichberechtigenden Werteordnung ist ein zentrales Thema. Insofern darf auch Anpassungsbereitschaft der Ankommenden verlangt werden. Es sollte auch nicht in den Hintergrund treten, dass dieses Land eine Arbeits- und Leistungsgesellschaft ist.

Eine Gesellschaft, die ihre eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln nicht pflegt, die ihr Land und ihre Identität nicht bejaht, eine Gesellschaft, die nicht mit eigenen Kindern optimistisch und pragmatisch nach vorne schaut, eine solche Gesellschaft reagiert auf Veränderung eher ängstlich. Vor allem wird sie als Integrationsziel für die Hinzukommenden auf Dauer nicht anziehend, nicht ansteckend wirken. 

Was sagt unsere Werteordnung zu Wanderungsbewegungen in einer durchlässigen Welt? Trifft nicht die wohlhabende Bundesrepublik, zumal im langen Schatten ihrer Geschichte, eine zumindest sittliche besondere Pflicht, Menschen in Not zu helfen? Müssen wir, wenn ganze Regionen wie der Nahe Osten als politische Ordnungen zerfallen, nicht notfalls zusammenrücken, teilen und Risiken in Kauf nehmen? Verleihen die universellen Menschenrechte nicht ein Recht auf freie Niederlassung weltweit, zumal wenn in der Heimat Krieg, Not und Entrechtung herrschen? Dürfen sich Demokratien wie Ungarn, die Schweiz, England oder die Vereinigten Staaten überhaupt mit Grenzen umzäunen und zurückweisen, wer nicht erwünscht ist? Dürfen wir Menschen abschieben, die keinen Aufenthaltstitel vorweisen können?

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