16.10.15
Wer den Muezzin in Deutschland duldet, hat keine Ahnung von Toleranz
Viel ist in diesen Tagen die Rede von den westlichen Werten, die es zu
verteidigen gelte. Was aber soll da auf welchen Wegen verteidigt werden?
Welche geistigen Gründungsurkunden des Westens man auch zu Rate zieht,
ob Voltaire, John Locke oder die Bibel:
Überall ist Toleranz eine Übung in Standhaftigkeit und nicht ein
gleichförmiges Desinteresse an allem. So aber hat sich der Westen in
weiten Teilen in den letzten Jahren entwickelt: zur Vereinigung der
Menschen, denen alles egal ist, solange niemand sie beim Lebensgenuss
und dessen Verdauung stört. Toleranz aber ist ohne Haltung nicht zu
haben.
Der Westen, verstanden als große Freiheitserzählung, könnte sonst in der
Stunde seiner größten Bewährung vor dieser Herausforderung
kapitulieren. Er könnte seiner Sprachunfähigkeit zum Opfer fallen,
könnte implodieren in einem ohrenbetäubenden Schweigen, eingehen an
innerer Auszehrung. Der britische Historiker Niall Ferguson nennt die
„vielleicht schlimmste Bedrohung des Westens“ nicht den radikalen
Islamismus oder „eine andere von außen kommende Kraft, sondern unser
mangelndes Verständnis für und fehlendes Vertrauen in unser eigenes
kulturelles Erbe.“
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Das Appeasement des
Westens verdient eine ebenso ernste Anfrage. Was lief schief in den
Schulbänken zwischen Washington und London, Berlin und Stockholm,
wenn der Westen sich zwar sonntags als Wertegemeinschaft begreift, von
Montag bis Samstag aber nichts unternimmt, um diese Werte zu
verteidigen? Wenn die Selbstzensur fröhliche Urständ‘ feiert und man
sich in vorauseilenden Unterwerfungsgesten übt, um weiter an der Illusion
festhalten zu können vom friedlichen Nebeneinander von Freiheit und
Freiheitsfeindschaft? Lieber ziehen vorgeblich aufgeklärte, in Wahrheit
eingeschüchterte Mitteleuropäer potentiell anstößige Karnevalswagen aus
dem Verkehr oder sagen Faschingsumzüge wie im Februar 2015 jenen von
Braunschweig ganz ab, um den Freiheitsfeinden keine weiteren
Angriffsflächen und Anschlagsziele zu bieten, als unverdrossen
einzustehen für die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Religion, die
Freiheit der Versammlung und, sämtliche Freiheiten überwölbend, die
Gleichheit aller Menschen von Geburt an.
Die
Terrorbrigade „Islamischer Staat“ begreift sich auf einem Eroberungszug
über das Mittelmeer hin, Rom fest im Blick. Und Rom ist neben Jerusalem
und Athen einer der drei Pfeiler dieses großen zivilisatorischen
Projekts namens Westen oder Abendland. Fällt Rom, ist der Westen
Geschichte. Damit Rom nicht fällt, muss der Westen sich seines inneren
Kompasses neu vergewissern. Eine einmalige Vergangenheit, eine ganz
außerordentliche Emanzipationsgeschichte, muss aktualisiert werden –
solange deren Restbestände uns noch zu Gebote stehen, wir noch frei
greifen können nach dem Quell unserer Freiheiten.
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