11.6.16

 

Pfarrer von Aleppo: Milizen erschießen während der Messe Gläubige

Franziskanerpater Alsabagh aus dem "syrischen Stalingrad" im "Kathpress"-Interview: Kein Friede in Syrien in Sicht, Chance auf Flüchtlings-Rückkehr immer geringer

P. Ibrahim Alsabagh
 
Die Menschen in Aleppo, dem "syrischen Stalingrad", leben "in einem schlimmen Albtraum und erwarten täglich den Tod", hat der Pfarrer der umkämpften Stadt, Ibrahim Alsabagh, in einem "Kathpress"-Interview am Mittwoch berichtet. Alsabagh ist derzeit auf Einladung des Hilfswerks "Kirche in Not" auf Österreich-Besuch. Er spricht am Freitag um 20.30 Uhr im Rahmen der "Langen Nacht" in der Wiener Schottenkirche über die Christen in Syrien. Diese würden von der Weltöffentlichkeit "völlig übersehen", mahnte er. "Ständig gibt es Raketen- und Granatenbeschuss, auch auf Häuser, Schulen, Krankenhäuser und sogar Kirchen. Immer wieder dringen Bewaffnete in die Sonntagsmessen ein und metzeln Gläubige nieder", schilderte der Ordensmann die Lage in Aleppo.

Verschärft habe sich die Situation durch die Ankündigung Russlands, die Assad-Truppen zu unterstützen. Rebellen-Angriffe gegen Zivilisten wie das Blutbad am Wochenende, bei dem auch etliche Christen starben, bezeichnete Alsabagh als "Racheakte", mit denen die Regierung unter Druck gesetzt werden solle.

Das Leben in Aleppo verglich der Priester mit einem "Horrorfilm": Viele Wohnungen seien zerstört und unbewohnbar, die Preise für Nahrung und anderen Alltagsbedarf fünf- bis zehnmal teurer als zuvor und über 85 Prozent der Menschen ohne Arbeit, wodurch viele Hunger litten. Die Wasserversorgung funktioniere oft über Wochen nicht, da Islamisten die Hauptzuleitungen kontrollierten, wodurch man auf alte Brunnen zurückgreifen müsse; Strom gebe es über Monate nicht. Kritisch auch die Gesundheitslage: "Viele sind verletzt, tragen im Körper Bombensplitter oder haben Gliedmaßen oder ein Auge verloren." Viele Krankenhäuser sind aber zerstört, Ärzte unleistbar.

Viele Aleppiner sind längst geflohen. Wer blieb, sind vor allem die durch den bereits langen Krieg verarmten und älteren Menschen, die sich die Ausreise nicht leisten konnten oder zutrauten, darunter 12.000 christliche Familien - "eine Gruppe von 50.000 Menschen, was etwa ein Drittel der ursprünglichen Gemeinde ausmacht", so Alsabagh. Die Christen leben im Westteil der Stadt, beschützt von der syrischen Armee. Durch den Kriegsdienst der Männer oder deren Flucht ins Ausland sind viele Frauen mit den Kindern alleine zurückgeblieben: "Auf zwölf junge Frauen kommt ein junger Mann", verdeutlichte der Priester.

Hilfe gegen Not und Trauma

Während internationale Hilfsorganisationen in der Kriegsstadt laut P. Alsabagh kaum präsent sind, haben die fünf Franziskaner ein umfassendes humanitäres Hilfswerk aufgebaut. Mit Unterstützung von "Kirche in Not" werden schon seit 2014 Nahrungspakete, Kleidung, Hygieneprodukte und Wasser verteilt, der Strom für 600 Familien bezahlt oder Wohnungen für durch die Bomben obdachlos gewordene Familien angemietet. Es gibt Beihilfen für Arztkosten bis hin zu Operationen, für Schwangere, Babys, behinderte Kinder und alte Menschen, zudem werden auch Brunnen werden gebaut und Treibstoff für Generatoren bezahlt - und zwar unterschiedlos an Christen und Muslime, wie der Ordensmann betonte.

Besonders wichtig sei gegenwärtig aber auch die psychologische Hilfe: "Viele Menschen sind von der ständigen Angst und dem Terror traumatisiert und zerstört. Jeder Tag ist eine Zitterpartie: Die Mütter rufen an und fragen: Sollen wir die Kinder heute in die Schule schicken oder ist es zu gefährlich?" Die meisten Kinder litten unter Schlafstörungen, viele Frauen könnten nicht alleine sein und seien auf Psychopharmaka angewiesen, da es keine Therapie gibt. Als Antwort darauf bieten die Franziskaner zumindest kurze "Auszeiten vom Krieg": Demnächst in einem Sommercamp für 350 Kinder mit Sport, Spiel, Kreativität und Theater sowie Fleisch und gesunder Ernährung - "Dinge, die sonst undenkbar sind", so der Ordensmann. Für besonders mitgenommene Familien gibt es zudem einwöchigen begleiteten Familienurlaub außerhalb Aleppos.

Unterstützt würden die kirchlichen Aktivitäten von einer großen und stets wachsenden Schar von freiwilligen Helfern, berichtete Alsabagh; nicht zuletzt würden nämlich viele Christen ihren Verbleib in Aleppo als bewusstes Glaubenszeugnis, als "weißes Martyrium" leben. "Sie zeigen allen vor, was Gewaltlosigkeit, Nächstenliebe und Glaube an die Auferstehung konkret bedeutet: Inmitten des Todes und Sterbens, wo die meisten nur noch auf sich schauen und sich abschotten, helfen sie anderen trotz des eigenen Leids", so der Franziskanerpater. Der Glaube sei "stark", alle Rivalität zwischen Konfessionen und Religionen verschwunden: "Wir sitzen alle im gleichen Boot."

Kein Friede in Sicht

Die ausharrenden Christen würden auch die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben, den Pater Ibrahim nach über fünf Kriegsjahren allerdings immer noch weit entfernt sieht. "Das Chaos hält an, und momentan sehe ich weder eine diplomatische noch militärische Lösung." Nur auf internationaler Ebene sei ein Friedensschluss möglich, seien beim syrischen Krieg doch längst vor allem wirtschaftliche und machtpolitische Interessen - die teils religiös begründet seien - federführend.

Die heutigen Flüchtlingskrisen bezeichnete der Ordensmann als grundsätzliches Verteilungsproblem: "So lange die Trennung in Erste, Zweite und Dritte Welt besteht, werden Menschen aus den armen Regionen in die erste Welt drängen wollen." Die Franziskaner in Aleppo zielten darauf ab, Menschen in deren Heimat würdevolles Leben zu ermöglichen und Solidarität zu zeigen, war durchaus "Fluchtprävention" sei. Tatsächlich seien in jüngster Vergangenheit laut Alsabagh etliche Familien trotz der Kämpfe nach Aleppo zurückgekehrt, da das Leben in den Flüchtlingslagern ebenfalls schwierig war. "Klar ist jedoch die Hoffnung auf Rückkehr umso geringer, je länger der Krieg dauert. Wer einmal das Land verlässt, kommt nicht wieder."

Gegenwärtig solle Europa genau darauf achten, welche Ankommenden aus islamischen Ländern von IS-Ideologie zur Migration motiviert seien, mahnte Alsabagh. Wer jedoch tatsächlich wegen Krieg und Verfolgung an die Türen klopfe, dem müsse geöffnet werden: "Er braucht Hilfe, jedoch auch Begleitung und Integration in die Kultur. Es ist wichtig, dass sich die Menschen selbst verantwortlich fühlen für die Weiterentwicklung der Gesellschaft, die sie aufnimmt." Die Christen auf der Flucht - viele von ihnen junge Familien - würden dies in ihrem Ankunftsland meist umsetzen und sich fruchtbar einbringen, so die Erfahrung des Priesters.

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