27.9.16

 

Viel Licht, aber auch Schatten in der Flüchtlingshilfe

250 Pfarren der Erzdiözese Wien haben 1.100 Menschen langfristig untergebracht - Scheidender Flüchtlingskoordinator Tippow: "Aus viel zitiertem 'Wir schaffen das' ist ein 'Wir haben es geschafft' geworden"


Eine gemischte Bilanz nach zwölf Monaten intensiver kirchlicher Hilfe für Flüchtlinge hat der Leiter der Pfarr-Caritas der Erzdiözese Wien, Rainald Tippow, gezogen. 250 Pfarren im Gebiet der Erzdiözese sichern aktuell die langfristige Unterbringung und Alltagsbegleitung von 1.100 geflüchteten Menschen, berichtete er am Mittwoch bei einem Pressegespräch in Wien. Daneben gab es 50.000 Übernachtungen in sogenannten Not- und Transitquartieren. "Aus dem viel zitierten 'Wir schaffen das' ist ein 'Wir haben es geschafft' geworden", sagte Tippow, der sein Amt als diözesaner Flüchtlingskoordinator vor wenigen Tagen zurücklegen konnte. Die Lage habe sich "normalisiert". Gleichzeitig würden viele Ehrenamtliche bei ihrem Einsatz an administrative Grenzen stoßen, kritisierte der Experte. Die Politik habe in der Flüchtlingshilfe Engagierte in etlichen konkreten Belangen vielfach allein gelassen.

Tippow gab einen ausführlichen Überblick zum kirchlichen Engagement für Flüchtlinge und deren Integration, das vor allem in kleinteiligen Strukturen stattfindet. Zwischen einem und bis zu 25 Flüchtlinge waren in einzelnen Pfarren der Wiener Erzdiözese gemeinsam untergebracht, im Durchschnitt waren es rund fünf Menschen pro Gemeinde. "Gerade die Unterbringung an sehr vielen Orten in sehr kleinen Gruppen mit intensiver Begleitung von Engagierten ist die Antwort auf Massenunterkünfte mit all den bekannten und diskutierten Problemen", so der Experte.

Die Anzahl der im Bereich der kirchlichen Flüchtlingshilfe engagierten Freiwilligen, unter ihnen auch viele mit nur loser oder ohne kirchlicher Bindung, habe jede Erwartung übertroffen, hob Tippow hervor. Viele hätten "ohne viel zu fragen, das getan, was aus kirchlicher Überzeugung Kern der kirchliche Botschaft ist: sich für diejenigen einzusetzen, die am Rand der Gesellschaft stehen, die fremd, arm und obdachlos sind", so der Leiter der Pfarr-Caritas: "Hier hat das christliche Abendland seine Werte nicht in Bilderrahmen an die Wand gehängt, sondern die Werte gelebt."

Von Politik allein gelassen


"Gemeinsam haben wir viel bewegt", unterstrich Tippow die Erfolge beim Schaffen von Wohnraum für Flüchtlinge, vor allem aber auch die Integrationsbemühungen in den Pfarren in Form von Deutschkursen, Amtsbegleitungen, Suche nach Dolmetschern für Arztbesuche, Bereitstellen von Kindergartenplätzen oder der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen.

Gleichzeitig gab und gibt es zahlreiche Probleme. Die Zivilgesellschaft stünde einer "verängstigen und oftmals als planlos erlebten Politik" gegenüber. Engagierte würden vielfach allein gelassen, kritisierte der kirchliche Flüchtlingshilfeexperte und berichtete etwa von der "oft erfolglosen und frustrierenden" Suche nach passenden Deutschkursen oder berufsbildenden Kursen. Die "Mühlen der Verwaltung" hielten viele der Geflüchteten in "künstlicher Arbeitslosigkeit", warb er etwa für größere Flexibilität bei formellen Voraussetzungen für einen Jobantritt Geflüchteter, u.a. bei den vorgeschriebenen Deutschkursen oder der Anerkennung von Qualifikationen. Wünschenswert sei etwa ein Arbeitsplatzcoaching, bei dem Flüchtlinge von einer Fachperson begleitet werden.

Freilich gebe es auch eine große Gruppe geflüchteter Menschen, die wegen ihrer nicht vorhandenen Schulbildung kaum am Arbeitsmarkt vermittelbar sind, ergänzte Tippow. Hier seien jahrelange Bildungsmaßnahmen nötig. Trotzdem habe ein nun 17-Jähriger nach einer umfassenden, mehrjährigen Schulausbildung als Mitte-20-Jähriger noch eine "großartige Perspektive", betonte der Flüchtlingsexperte. "Wenn wir die Menschen aber daheim sitzen lassen, dann bekommen wir eine ganze Reihe Probleme."

Keine religiöse Konflikte


Bedeutend für das Gelingen der Integration sind für Tippow auch die Vermittlung von Werten im Sinne von Grundregeln in Fragen des Zusammenlebens. "Das muss ganz klar gesagt werden. Es gibt absolut rote Linien in der Frage der bürgerlichen Freiheiten, der Religionsfreiheit und der Gleichheit der Geschlechter und etwa auch bei Gewalt in der Familie." Die "viel gescholtenen" achtstündigen Wertekurse des Integrationsfonds seien zwar "sehr willkommen", so Tippow. Er betont aber: "Die tatsächliche Wertevermittlung geschieht im Alltag und bei informellen Begegnungen."

Religiöse Konflikte in kirchlichen Flüchtlingsunterkünften habe es nicht gegeben, beantwortete der Flüchtlingskoordinator eine entsprechende Journalistenfrage. Der Großteil der in den Pfarren untergebrachten Menschen seien Muslime. "Wir haben keine Diskussionen über ein Abhängen von Kreuzen gehabt und auch keinen syrischen Vater, der gesagt hätte, mein Kind geht aber nicht in den katholischen Kindergarten", betonte der Flüchtlingshilfekoordinator.

Vielmehr habe in den Pfarrgemeinden ein unmittelbarer Austausch zwischen weit entfernten Kulturen stattgefunden. "Noch nie haben so viele Muslime christliche Gottesdienste mitgefeiert, Frauen mit Kopftuch im Kirchenchor mitgesungen, Christen am islamischen Fastenbrechen im Ramadan und Muslime in christlichen Haushalten Weihnachten mitgefeiert, sowie junge Afghanen beim Aufbau von Weihnachtskrippen geholfen, um nur einige wenige Schlaglichter auf die Realität zu werfen", schilderte Tippow.

Polarisierung auch in Kirche


Die gesellschaftliche Polarisierung in der Flüchtlingsdebatte spiegle sich derweil auch innerhalb der Kirche wieder, bekannte Tippow. Was in den 250 in der Flüchtlingshilfe engagierten Pfarrgemeinden getan worden sei, sei "großartig"; er hätte sich aber auch mehr Einsatz von den restlichen Gemeinden der rund 600 Pfarren umfassenden Erzdiözese gewünscht.

Die Polarisierung in der Debatte um die Flüchtlinge habe die Helfer stark beschäftigt. Der Riss gehe auch durch viele Familien und Freundeskreise, schilderte Tippow und kritisierte das "extreme Herausheben" der Problematik. Die Flüchtlinge würden hier "Versäumnisse der Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte ausbaden". Dabei sei das Problem "absolut schaffbar", betonte Tippow. "Das ist nicht ganz locker zu schultern, aber es wäre zu schultern", meinte er zur Integration jener 50.000 Menschen, die laut Schätzungen nun Asyl bekommen dürften.

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