27.4.17
Es wird kalt in Europa
Die evangelische Theologin und Religionspsychologin Susanne Heine aus
Wien macht sich Gedanken über den ersten Sonntag nach Ostern.
Das "kleine Ostern", so wird dieser erste
Sonntag nach dem Osterfest oft genannt. Oder auch "Quasimodogeniti",
eine lateinische Wendung, die "wie neugeborene Kinder" bedeutet. Wie
Neugeborene sollen wir sein - ohne Betrug und Heuchelei, ohne Neid und
üble Nachrede, heißt es im 1. Petrusbrief (2,1-2). Und eingebettet in
die Wärme von Zuwendung und Schutz.
In Europa aber ist es kalt geworden. Auf die schutzlosen ersten Blüten fällt Schnee. Die Armutsgrenze steigt, die Verteilung der Güter geschieht zugunsten der Reichen, für viele ist das Dach über dem Kopf nur ein dünnes Zelt, das nicht wärmt. Das Engagement für die Hilfsbedürftigen, die da sind, lässt nach, während neue Reproduktionstechniken für perfekte Neugeborene sorgen wollen. Es wird kälter in Europa.
Wie neu geboren, ohne Betrug und Heuchelei, ohne Neid und üble Nachrede, das sind Wunsch und Hoffnung. Aber der eisige Wind in Europa friert Hoffnungen ein. Der Wettlauf um die Suche nach Wärme schlägt um in die Parolen: Jeder rette seine eigene Haut - durch politische Heuchelei und üble Nachrede; Sündenböcke sichern die eigene weiße Weste. Jeder bringe sein Scherflein ins Trockene, ehe es zu spät ist und die Märkte einbrechen, noch bevor die nächsten Wahlen geschlagen sind. An die Stelle der Solidargemeinschaft treten die Ressentiments der Neider, die sich zu kurz gekommen fühlen. Mitgefühl ist jedenfalls Schnee von gestern. In Europa ist es kalt geworden.
Kehren die Machthaber der Welt wieder, die aus dem Weg räumen, was ihre Herrschaft zu bedrohen scheint? Das "kleine Ostern" des heutigen Sonntags hält die Erinnerung wach an den römischen Kaiser Domitian, der am Ende des 1. Jahrhunderts überall Verschwörungen gegen sich witterte und umbringen ließ, wer sich ihm, wenn auch nur dem Anschein nach, widersetzte. Er pflegte den Kult, der den Kaiser als "Herr und Gott" verehrte, und ließ in Ephesus einen Tempel auf seinen Namen errichten. Da für die Christen kein Mensch göttliche Ehren verdient, verweigerten sie die Teilnahme an solchen Staatskulten, und Domitian war einer ihrer ärgsten Verfolger.
Das Evangelium, das heute in vielen Kirchen gelesen wird, stammt von Johannes und entstand zu dieser Zeit. Zum Schluss fügt der Evangelist eine Szene ein - als Kontrastprogramm: Statt den Kaiser "Herr und Gott" zu nennen, spricht der zunächst "ungläubige" Thomas das Bekenntnis zu Jesus Christus: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28). Diese Szene schärft ein, dass kein Herrscher göttlich sein kann, sondern der eine unsichtbare Gott in Jesus Christus begegnet, der sich den Hilfesuchenden und Ausgestoßenen zuwendet: "Wer mich sieht, sieht (Gott) den Vater" (Joh 14,9).
Das ist alles lange her, aber einen "starken Mann" zu suchen, der gottgleich ein Volk von allen Übeln befreit, ist wieder sehr aktuell geworden. Warum diesem Wunsch oft ausgerechnet solche folgen, die sich auf das Christentum berufen, bleibt mir ein Rätsel. Ebenso, wie schnell vergessen wird, dass Machthaber dieser Art vor keiner Brutalität zurückschrecken. Wenn deren Anhänger davon ausgehen, selbst nicht betroffen zu sein, täuschen sie sich. Sie meinen, die Brutalität werde sich nur gegen die "Bösen" richten, die die Welt ins Chaos stürzen. Aber Machthabern dieser Art geht es nur um sich selbst. Ängstlich wittern sie überall Verschwörungen und schlagen zu, verbal oder handgreiflich, wo immer sich jemand ihnen zu widersetzen scheint.
In Europa ist es kalt geworden. Das Mitgefühl friert ein. Jeder mag von den Kirchen halten, was er oder sie will. Auch Kirchen sind kein Paradies; aber unter nicht mehr so vielen anderen, sind es die Kirchen und deren Gemeinden, die sich die Sehnsucht nach Wärme zu Herzen nehmen und nicht in das Horn von Verschwörungsideen stoßen. Sie engagieren sich nach wie vor für die Hilfsbedürftigen, die da sind, weil der eine Gott der Gott aller Menschen ist. Im Namen dieses Gottes sollen wir wie Neugeborene sein, ohne Betrug und Heuchelei, ohne Neid und üble Nachrede. Das ist die Ansage des ersten Sonntags nach Ostern.
Ö1
In Europa aber ist es kalt geworden. Auf die schutzlosen ersten Blüten fällt Schnee. Die Armutsgrenze steigt, die Verteilung der Güter geschieht zugunsten der Reichen, für viele ist das Dach über dem Kopf nur ein dünnes Zelt, das nicht wärmt. Das Engagement für die Hilfsbedürftigen, die da sind, lässt nach, während neue Reproduktionstechniken für perfekte Neugeborene sorgen wollen. Es wird kälter in Europa.
Wie neu geboren, ohne Betrug und Heuchelei, ohne Neid und üble Nachrede, das sind Wunsch und Hoffnung. Aber der eisige Wind in Europa friert Hoffnungen ein. Der Wettlauf um die Suche nach Wärme schlägt um in die Parolen: Jeder rette seine eigene Haut - durch politische Heuchelei und üble Nachrede; Sündenböcke sichern die eigene weiße Weste. Jeder bringe sein Scherflein ins Trockene, ehe es zu spät ist und die Märkte einbrechen, noch bevor die nächsten Wahlen geschlagen sind. An die Stelle der Solidargemeinschaft treten die Ressentiments der Neider, die sich zu kurz gekommen fühlen. Mitgefühl ist jedenfalls Schnee von gestern. In Europa ist es kalt geworden.
Kehren die Machthaber der Welt wieder, die aus dem Weg räumen, was ihre Herrschaft zu bedrohen scheint? Das "kleine Ostern" des heutigen Sonntags hält die Erinnerung wach an den römischen Kaiser Domitian, der am Ende des 1. Jahrhunderts überall Verschwörungen gegen sich witterte und umbringen ließ, wer sich ihm, wenn auch nur dem Anschein nach, widersetzte. Er pflegte den Kult, der den Kaiser als "Herr und Gott" verehrte, und ließ in Ephesus einen Tempel auf seinen Namen errichten. Da für die Christen kein Mensch göttliche Ehren verdient, verweigerten sie die Teilnahme an solchen Staatskulten, und Domitian war einer ihrer ärgsten Verfolger.
Das Evangelium, das heute in vielen Kirchen gelesen wird, stammt von Johannes und entstand zu dieser Zeit. Zum Schluss fügt der Evangelist eine Szene ein - als Kontrastprogramm: Statt den Kaiser "Herr und Gott" zu nennen, spricht der zunächst "ungläubige" Thomas das Bekenntnis zu Jesus Christus: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28). Diese Szene schärft ein, dass kein Herrscher göttlich sein kann, sondern der eine unsichtbare Gott in Jesus Christus begegnet, der sich den Hilfesuchenden und Ausgestoßenen zuwendet: "Wer mich sieht, sieht (Gott) den Vater" (Joh 14,9).
Das ist alles lange her, aber einen "starken Mann" zu suchen, der gottgleich ein Volk von allen Übeln befreit, ist wieder sehr aktuell geworden. Warum diesem Wunsch oft ausgerechnet solche folgen, die sich auf das Christentum berufen, bleibt mir ein Rätsel. Ebenso, wie schnell vergessen wird, dass Machthaber dieser Art vor keiner Brutalität zurückschrecken. Wenn deren Anhänger davon ausgehen, selbst nicht betroffen zu sein, täuschen sie sich. Sie meinen, die Brutalität werde sich nur gegen die "Bösen" richten, die die Welt ins Chaos stürzen. Aber Machthabern dieser Art geht es nur um sich selbst. Ängstlich wittern sie überall Verschwörungen und schlagen zu, verbal oder handgreiflich, wo immer sich jemand ihnen zu widersetzen scheint.
In Europa ist es kalt geworden. Das Mitgefühl friert ein. Jeder mag von den Kirchen halten, was er oder sie will. Auch Kirchen sind kein Paradies; aber unter nicht mehr so vielen anderen, sind es die Kirchen und deren Gemeinden, die sich die Sehnsucht nach Wärme zu Herzen nehmen und nicht in das Horn von Verschwörungsideen stoßen. Sie engagieren sich nach wie vor für die Hilfsbedürftigen, die da sind, weil der eine Gott der Gott aller Menschen ist. Im Namen dieses Gottes sollen wir wie Neugeborene sein, ohne Betrug und Heuchelei, ohne Neid und üble Nachrede. Das ist die Ansage des ersten Sonntags nach Ostern.
Ö1