9.1.18

 

Gedächtnis und Generationserfahrung

Was ist der Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Generationserfahrung? Wenn wir uns diese Frage stellen, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass unser Wissen um die Vergangenheit gesellschaftlich geprägt ist, und dass es sich verändert - jede Generation stellt neue Fragen an die Geschichte.

Was uns aber kaum bewusst ist: Wir bewegen uns mit dieser Frage in einem Denkmodell, das erst Ende der 1980er Jahre entwickelt wurde. Der Begriff "Gedächtnis", wie wir ihn heute verwenden, die Geburtsstunde des neuen Zauberworts, lässt sich exakt datieren: Aleida und Jan Assmann haben 1988 eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses im renommierten Suhrkamp-Verlag publiziert. Binnen kurzer Zeit hat der neue Begriff "Gedächtnis" dann Karriere gemacht und umgehend Eingang in den Sprachgebrauch gefunden - etwa wenn von Gedächtniskultur oder Gedächtnisorten die Rede ist.
Gerade deswegen ist die Radikalität, mit der das Konzept Gedächtnis seit dem Ende der 1980er Jahre unsere Vorstellungen über Vergangenheit und Gegenwart verändert hat, kaum noch zu erahnen. Die Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei, lässt sich auch auf dieses Phänomen beziehen: Ist die wissenschaftliche Gedächtnis-Theorie ein Ergebnis neuer Erinnerungsbedürfnisse im ausgehenden 20. Jahrhundert? Oder haben sich erst unter dem Fahnenwort Gedächtnis die gesellschaftlichen Bewegungen der "Generation of Memory", der Generation Gedächtnis formiert?
Es geht also um die faszinierende Frage - zumindest für HistorikerInnen ist das DIE Frage schlechthin: Wie entsteht das Neue, wie formieren sich die sozialen Energien und Kräftefelder, die kulturellen und gesellschaftlichen Wandel vorantreiben? Und ganz konkret geht es um die Frage: Warum engagiert sich eine ganze Generation am Ende des 20. Jahrhunderts für eine neue Erinnerungskultur?

Ö1



"Generation Gedächtnis" - diesen Begriff hat der amerikanische Historiker Jay Winter geprägt. Er stellt die Frage: Warum ist Gedächtnis, die Art und Weise, wie sich Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, im ausgehenden 20. Jahrhunderts so wichtig geworden? Woraus bezieht die Generation Gedächtnis ihren Antrieb, ihren Drive, ihre soziale Energie?
Diese Frage führt mich zu einer Spurensuche in der eigenen Generationserfahrung, aber es geht nicht nur um meine individuelle Biografie, sondern um ein kollektives Phänomen: die Motive der Aktivistinnen und Aktivisten, die sich in der Waldheim-Debatte 1986 gegen die "Geschichtslüge" von Österreich als "erstem Opfer des Nationalsozialismus" engagierten. Und es geht um den Perspektivenwechsel in der Zeitgeschichte - von der 68er Generation, die für die Anerkennung des österreichischen Widerstands kämpfte, zur "generation of memory", geprägt durch die Waldheim-Debatte und engagiert gegen das Vergessen und Verdrängen des Holocaust und seiner Opfer.
Einer Generation anzugehören, das ist immer eine Verschränkung von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren. Ich bin 1956 in einem kleinen Dorf in der Oststeiermark geboren und in einem bäuerlich-katholisch-konservativen Milieu aufgewachsen. Dass ich das Gymnasium besuchen und dann studieren konnte verdanke ich meiner emanzipierten berufstätigen Mutter und den Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre, damals wurden die ersten Gymnasien in steirischen Bezirksstädten eingerichtet. Heute ist mir bewusst, dass das Gymnasium der Ort des cultural clash war - der Erfahrung des Widerspruchs zwischen der Darstellung der Geschichte Österreichs 1938 bis 1945 in den Schulbüchern und jenen Erzählungen, die im familiären und sozialen Umfeld der Dorfgemeinschaft vermittelt wurden.


Ö1
 

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