17.7.18
Die Methusalem Generation
Die Alterung der Gesellschaft, jedenfalls in den „entwickelten“
Industriestaaten, schreitet mit einer Rasanz voran, die noch vor kurzem
niemand für möglich gehalten hätte. Die Fortschritte der Medizin – man
ist sich seines Todes nicht mehr sicher –, veränderte Lebens- wie
Ernährungsgewohnheiten, Hygienestandards und zunehmender Wohlstand haben
die Lebenserwartung in Höhen schießen lassen, von denen früher
höchstens geträumt werden konnte. Die demografische Entwicklung führt zu
einer gesellschaftlichen Umwälzung, die die Grundfesten des Alltags
erschüttert.
Heute sind 3,8 Prozent der Deutschen älter als 80 Jahre. In der Jahrhundertmitte werden es 11,3 Prozent sein. Das ist eine Explosion.
Immer mehr Alte, immer weniger Junge. Das hat ungeheure Folgen. Nicht nur für die Rentenkassen. Sondern für die gesamte soziale Struktur. Die Alten, ihre Interessen, Bedürfnisse und Gewohnheiten werden die Gesellschaft dominieren.
65-Jährige leben inzwischen wie die 45-Jährigen von früher. Sitzen nicht mehr grau in der Ecke und verzehren ihr Gnadenbrot. Sondern stehen mitten im Leben, kleiden sich wie die Jungen, hören ihre Musik, treiben Sport, erfüllen sich Wünsche, die ihnen das Arbeitsleben versagte, unternehmen Reisen, sind gesund und fit – und haben Zeit. Kein Wecker reißt sie morgens aus dem Schlaf, kein Chef schikaniert, kein Termin drängt, und die Kinder sind auch längst aus dem Haus. Das Leben ist eine neue Freiheit und eine nie gekannte Freizeit.
Die Alten sind jung wie nie. Lassen sich auf ihre späten Tage in kommunale Parlamente wählen, engagieren sich in Ehrenämtern, in freiwilligen Tätigkeiten als Pflegerinnen und Pfleger, in der Kinderbetreuung, als Organisatoren in Vereinen und Kirchen. Sie tun das nicht, weil sie müssen, sondern weil sie möchten.
Wer die 60 überschritten hat, hat heute noch ein Viertel seines Lebens vor sich, oft auch mehr. Ein uralter Menschheitstraum scheint Realität geworden zu sein. Alt werden, ohne zu altern. Die Weisheit des Alters erfahren und die Jugendlichkeit des Körpers bewahren.
Kein Wunder, dass die Werbung sie längst entdeckt hat, die rüstigen Alten, eine kaufkräftige Konsumentenschicht. Einen Namen haben sie auch schon bekommen: „Woopies“ (Well-Off Older Persons). Immer mehr gut erhaltene Körper und nur spärlich gefaltete Gesichter verheißen auf Plakatwänden, dass das Leben jetzt erst richtig anfängt. Die Wirtschaft – „Silver Economy“ – stellt sich auf die neuen Kunden ein, bietet Produkte und Dienstleistungen für die Best Ager.
Und die Wissenschaft zieht nach. Die herkömmliche Einteilung des Lebens in drei Abschnitte – Kindheit, Berufszeit, Alter – hat ausgedient. Die späten Jahre werden in zwei neue Segmente gespalten: drittes und viertes Alter.
Doch die steigende Lebenserwartung hat ihren Preis. Denn immer älter werden heißt zugleich: immer länger alt sein. Und die Fortschritte der Medizin vermögen es meist nicht, die Phase der Hochaltrigkeit, die statistisch etwa ab dem 80. Lebensjahr beginnt, in eine Glücksphase zu verwandeln. Die Verheißung des längeren Lebens wird zu einer Verheißung des Leidens, einer Zeit der Krankheiten, Schmerzen, einer Zeit des erhöhten Sterberisikos.
Bis zum 60. Lebensjahr liegt das statistische Pflegefall-Risiko unter einem Prozent. Auch bis zum 70. Geburtstag ist die Gefahr sehr gering. Dann aber, mit Beginn des „vierten Alters“, steigen die Zahlen massiv an. Zwischen 80 und 85 sind schon 20 Prozent pflegebedürftig, zwischen 85 und 90 sind es 33 Prozent, und bei den über 90-Jährigen liegt die Zahl der Pflegefälle bei 58 Prozent. 2020 werden es 2,9 Millionen sein, und die Prognosen für die Jahrhundertmitte schwanken zwischen 3,7 und 4,7 Millionen. Wer all diese Menschen dann pflegen soll, wird eine der großen sozialen Fragen der Zukunft sein.
Krankheiten und Schmerzen sind indessen nur ein Teil der Wahrheit über die Hochaltrigkeit. Der andere heißt Einsamkeit. Die meisten Menschen haben in dieser Lebensphase den Tod naher Angehöriger zu verkraften, des Ehemanns, der Ehefrau. Gut 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leben allein, bei den über 85-Jährigen sind es 75 Prozent.
Alter hatte in allen geschichtlichen Perioden viel mit den ökonomischen Verhältnissen zu tun. Wer Geld hat, lebt länger. Kann sich bessere Pflege, eine intensivere medizinische Betreuung, gesündere Ernährung leisten.
Es zählt zu den großen Mythen über das Altern, dass das zu anderen Zeiten anders gewesen wäre. Früher, so erzählen diese Mythen, hätten die Alten im Schoß der Großfamilie ihren Lebensabend verbracht, geachtet und geschätzt ob ihrer Erfahrung und Weisheit. Gerade ganz früher, in der Antike sei das so gewesen. Nicht umsonst hieß das Gremium, das zum Beispiel die Geschicke der römischen Republik bestimmt, Senat, Versammlung der Älteren.
In der Realität sah es meist anders aus. Dass die Alten früher besonders geachtete Personen waren, ist eher eine Verklärung neuerer Tage. Mochten Personen von Stand auch das Hohelied des Alters singen wie etwa Seneca oder Cicero („Der alte Mann ist von Natur aus Philosoph“), für die meisten anderen und die weniger Begüterten zumal war der Lebensabend eine Zeit voller Düsternis. Wer keine Rücklagen hatte, den erwartete bittere Armut.
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Heute sind 3,8 Prozent der Deutschen älter als 80 Jahre. In der Jahrhundertmitte werden es 11,3 Prozent sein. Das ist eine Explosion.
Immer mehr Alte, immer weniger Junge. Das hat ungeheure Folgen. Nicht nur für die Rentenkassen. Sondern für die gesamte soziale Struktur. Die Alten, ihre Interessen, Bedürfnisse und Gewohnheiten werden die Gesellschaft dominieren.
65-Jährige leben inzwischen wie die 45-Jährigen von früher. Sitzen nicht mehr grau in der Ecke und verzehren ihr Gnadenbrot. Sondern stehen mitten im Leben, kleiden sich wie die Jungen, hören ihre Musik, treiben Sport, erfüllen sich Wünsche, die ihnen das Arbeitsleben versagte, unternehmen Reisen, sind gesund und fit – und haben Zeit. Kein Wecker reißt sie morgens aus dem Schlaf, kein Chef schikaniert, kein Termin drängt, und die Kinder sind auch längst aus dem Haus. Das Leben ist eine neue Freiheit und eine nie gekannte Freizeit.
Die Alten sind jung wie nie. Lassen sich auf ihre späten Tage in kommunale Parlamente wählen, engagieren sich in Ehrenämtern, in freiwilligen Tätigkeiten als Pflegerinnen und Pfleger, in der Kinderbetreuung, als Organisatoren in Vereinen und Kirchen. Sie tun das nicht, weil sie müssen, sondern weil sie möchten.
Wer die 60 überschritten hat, hat heute noch ein Viertel seines Lebens vor sich, oft auch mehr. Ein uralter Menschheitstraum scheint Realität geworden zu sein. Alt werden, ohne zu altern. Die Weisheit des Alters erfahren und die Jugendlichkeit des Körpers bewahren.
Kein Wunder, dass die Werbung sie längst entdeckt hat, die rüstigen Alten, eine kaufkräftige Konsumentenschicht. Einen Namen haben sie auch schon bekommen: „Woopies“ (Well-Off Older Persons). Immer mehr gut erhaltene Körper und nur spärlich gefaltete Gesichter verheißen auf Plakatwänden, dass das Leben jetzt erst richtig anfängt. Die Wirtschaft – „Silver Economy“ – stellt sich auf die neuen Kunden ein, bietet Produkte und Dienstleistungen für die Best Ager.
Und die Wissenschaft zieht nach. Die herkömmliche Einteilung des Lebens in drei Abschnitte – Kindheit, Berufszeit, Alter – hat ausgedient. Die späten Jahre werden in zwei neue Segmente gespalten: drittes und viertes Alter.
Doch die steigende Lebenserwartung hat ihren Preis. Denn immer älter werden heißt zugleich: immer länger alt sein. Und die Fortschritte der Medizin vermögen es meist nicht, die Phase der Hochaltrigkeit, die statistisch etwa ab dem 80. Lebensjahr beginnt, in eine Glücksphase zu verwandeln. Die Verheißung des längeren Lebens wird zu einer Verheißung des Leidens, einer Zeit der Krankheiten, Schmerzen, einer Zeit des erhöhten Sterberisikos.
Bis zum 60. Lebensjahr liegt das statistische Pflegefall-Risiko unter einem Prozent. Auch bis zum 70. Geburtstag ist die Gefahr sehr gering. Dann aber, mit Beginn des „vierten Alters“, steigen die Zahlen massiv an. Zwischen 80 und 85 sind schon 20 Prozent pflegebedürftig, zwischen 85 und 90 sind es 33 Prozent, und bei den über 90-Jährigen liegt die Zahl der Pflegefälle bei 58 Prozent. 2020 werden es 2,9 Millionen sein, und die Prognosen für die Jahrhundertmitte schwanken zwischen 3,7 und 4,7 Millionen. Wer all diese Menschen dann pflegen soll, wird eine der großen sozialen Fragen der Zukunft sein.
Krankheiten und Schmerzen sind indessen nur ein Teil der Wahrheit über die Hochaltrigkeit. Der andere heißt Einsamkeit. Die meisten Menschen haben in dieser Lebensphase den Tod naher Angehöriger zu verkraften, des Ehemanns, der Ehefrau. Gut 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leben allein, bei den über 85-Jährigen sind es 75 Prozent.
Alter hatte in allen geschichtlichen Perioden viel mit den ökonomischen Verhältnissen zu tun. Wer Geld hat, lebt länger. Kann sich bessere Pflege, eine intensivere medizinische Betreuung, gesündere Ernährung leisten.
Es zählt zu den großen Mythen über das Altern, dass das zu anderen Zeiten anders gewesen wäre. Früher, so erzählen diese Mythen, hätten die Alten im Schoß der Großfamilie ihren Lebensabend verbracht, geachtet und geschätzt ob ihrer Erfahrung und Weisheit. Gerade ganz früher, in der Antike sei das so gewesen. Nicht umsonst hieß das Gremium, das zum Beispiel die Geschicke der römischen Republik bestimmt, Senat, Versammlung der Älteren.
In der Realität sah es meist anders aus. Dass die Alten früher besonders geachtete Personen waren, ist eher eine Verklärung neuerer Tage. Mochten Personen von Stand auch das Hohelied des Alters singen wie etwa Seneca oder Cicero („Der alte Mann ist von Natur aus Philosoph“), für die meisten anderen und die weniger Begüterten zumal war der Lebensabend eine Zeit voller Düsternis. Wer keine Rücklagen hatte, den erwartete bittere Armut.
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