15.6.20

 

"Wuhan Diary" - Tagebuch über eine Millionenmetropole im wochenlangen Shutdown

Wuhan ist eine Mega-City. Eine Stadt, in der weit mehr Menschen leben als insgesamt in Mitteldeutschland: rund 11 Millionen. Vor wenigen Monaten kam sie schlagartig in die Schlagzeilen: Eine Meldung ging um die Welt, wonach in Wuhan ein neuartiger Typ von Corona um sich greift. Die chinesische Führung versuchte zunächst, solche Meldungen zu unterdrücken. Dann aber wurde ganz Wuhan auf einen Schlag abgeriegelt. Eine der bekanntestes Schriftstellerinnen Chinas, Fang Fang, hat den Ausnahme-Zustand miterlebt und in einem vieldiskutierten Online-Tagebuch beschrieben. Nun ist es auf Deutsch erschienen.

Vor allem das Gefühl abgeschnitten, allein, vergessen zu sein, veranlasst Fang, sich der Welt da draußen nun umso vernehmlicher mitzuteilen. Und so legt sie Tag für Tag Zeugnis ab vom Leben in der gesperrten Stadt: Stille auf den Straßen, Gedränge in Krankenhäusern, Jagen nach Schutz-Masken, Rätseln über ein Virus, seine Tücken und Mortalität, wilde Debatten, wie dem Virus beizukommen sei. Ein Bekannter empfiehlt im Brustton der Überzeugung die Methode, wie er sie nennt, vom "Schließen sämtlicher Pforten": "Sie besteht darin, still vor sich herzusagen: 'Alle Kapillaren des Körpers schließen sich! Kälte dringt nicht ein, die hundert Übel haben keinen Zugang, die positiven Abwehrkräfte sammeln sich im Inneren, das Übel ist machtlos!' Allen Ernstes versichert er, das sei eine über die Jahrhunderte tradierte Geheimformel, absolut kein Aberglaube."

"Hört man sich um, kommt erst jetzt vielen Leuten zu Bewusstsein, dass es nichts bringt, Tag für Tag nur die Stärke unserer Nation zu bejubeln, und dass Kader, die nur in politischen Schulungen herumsitzen und leere Phrasen dreschen … völlig nutzlos sind. Erst jetzt ist vielen bewusst geworden, dass in einer Gesellschaft, der es an gesundem Menschenverstand mangelt, … die Tötung von Menschen kein Gerede bleibt."

Drastische Worte für chinesische Verhältnisse, geradezu gefährlich radikal. Parteitreue Chinesen beschimpfen sie als "Verräterin" und "Marionette des Westens". Die Inkompetenz der Funktionäre in Wuhan ist allerdings so himmelschreiend, dass das ZK die übelsten Bonzen feuert. Die Zentrale in Peking übernimmt militärisch straff. Partei-Chef Xi macht den Anti-Corona-Kampf zur Chef-Sache - in Wuhan, in China, bald auch über China hinaus. So stellt er etwa der Welt-Gesundheits-Organisation staatsmännisch zwei Milliarden Dollar in Aussicht. Und mit dem mächtigen Xi legt sich Fang Fang dann lieber doch nicht an. Jedenfalls nicht offen.

"Schließlich ist gegenwärtig die Epidemie unser Hauptfeind. Ich will Schulter an Schulter mit der Regierung und den Bürgern von Wuhan mit aller Kraft gegen sie kämpfen. Ich werde alle Forderungen der Regierung an die Bevölkerung mittragen."

Die Risiken des öffentlichen Schreibens in China

Dieses Changieren zwischen gespielter Fügsamkeit und Partei-Tags-Pathos lässt ahnen, unter welchen Risiken eine Autorin in China öffentlich schreibt. Zumal zu Zeiten einer schweren Krise! So spiegelt Fangs Tagebuch zwar manches von dem, was inzwischen auch Menschen anderswo in einem Shutdown erfahren haben wie Ängste und Verschwörungsgeschwätz, Anteilahme und Hilfe. Nur dass die Dimensionen des Shutdowns von Wuhan immer noch unerreicht geblieben sind: in der Reichweite und in der erbarmungslosen Radikalität. Das alles hat Fang die Welt online nachempfinden lassen. Tag für Tag. Bis zum Ende des Shutdowns nach elf Wochen. Fangs Blog: ein erschütternder Erfolg. Und das Buch, das daraus nun entstand: es ist ein einzigartiges Dokument vom Leben zu Zeiten größtmöglicher autoritärer Krisen-Bewältigung.

Informationen zum Buch: Fang Fang: "Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt"
Übersetzt von Michael Kahn-Ackermann
Erschienen bei Hoffmann und Campe
349 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-455-01039-8

Google Book

Das Tagebuch der berühmten chinesischen Schriftstellerin Fang Fang aus einer abgeriegelten Stadt ist ein einzigartiges, ergreifendes Zeitdokument über den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, den die Menschen in Wuhan weltweit als erste führten. Wuhan: Am 25. Januar, zwei Tage nachdem erstmals in der Geschichte eine 9-Millionen-Einwohner-Stadt komplett von der Außenwelt abgeriegelt wurde, beginnt Fang Fang, online Tagebuch zu schreiben. Eingeschlossen in ihrer Wohnung berichtet sie vom Hereinbrechen und dem Verlauf einer Katastrophe, von der Panik während der ersten Tage der Covid-19-Epidemie bis zu ihrer erfolgreichen Eindämmung. Sie erzählt von der Einsamkeit, dem heroischen Kampf des Personals in den Krankenhäusern, vom Leid der Erkrankten, dem Schmerz der Angehörigen von Verstorbenen und der Solidarität unter Nachbarn. Millionen Chinesen folgen ihren Gedanken und ihren Geschichten aus dem unmöglichen Alltag – vom Zorn über die Untätigkeit und Vertuschungsmanöver der Behörden während der Anfangsphase der Epidemie und der Unterdrückung warnender Stimmen., bis zur Anerkennung der wirkungsvollen Maßnahmen der Regierung in den Wochen danach. Fang Fang liefert einen unverstellten Blick auf die Katastrophe “von unten”, ganz nah an den Menschen, ihren Ängsten und Nöten, aber auch ihren kleinen Freuden und dem speziellen Wuhaner Humor selbst in dunkelsten Stunden. Zugleich wurde ihr Wuhan Diary in China zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzung über den Umgang mit kritischen Stimmen und Verantwortung – und somit über Chinas künftigen Weg. „Als Zeugen, die wir die tragischen Tage von Wuhan miterlebt haben, sind wir verpflichtet, für diejenigen Gerechtigkeit einzufordern, die gestorben sind.“ - Fang Fang 

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