16.3.14
Gemurmelte Gebete
Es ist interessant, einen Blick darauf zu werfen, wie die Psalmen beginnen. Die Psalmen 1 und 2 bilden eine Art Einleitung, Vorwort oder Tor in die Psalmen. In ihnen werden wir bewusst dazu angeleitet, wie wir die Psalmen lesen sollten. In ihnen begegnen uns auch bereits die wichtigsten Protagonisten und Themen der Psalmen wie die Gerechten, die Gottlosen und Gottes Königsherrschaft.
Das hebräische Wort für Nachsinnen (hagah) meint eigentlich ein „Murmeln“ der Weisung (torah), ein halblautes Sich-Vorsprechen mit dem Ziel, Gottes Gesetz einzuüben und zu lernen.
Dabei ist es kein Zufall, dass die Psalmen mit dieser Aufforderung zum Nachsinnen beginnen. Das hebräische Alte Testament ist anders geordnet als unsere heutigen Bibelübersetzungen, die in der Reihenfolge der einzelnen Bücher der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, folgt. Das hebräische Alte Testament gliedert sich in 3 Teile, das Gesetz (Torah, die 5 Bücher Mose), die Propheten (Nebiim, prophetische Bücher und Geschichtsbücher) und die Schriften (Ketuvim, Weisheitsliteratur und Chronik). Die Psalmen bilden den Anfang der Ketuvim. Jeder dieser 3 Teile beginnt mit einer Betrachtung des Wortes Gottes. Die Schöpfungserzählung (Gen 1) zeigt die schöpferische Kraft von Gottes Wort. Am Beginn der Nebiim (Jos 1,8-9) wird Josua ermahnt, das Buch der Weisung, also die Torah, die 5 Bücher Mose, nicht von seinem Mund weichen zu lassen und darüber ständig nachzusinnen. Daran knüpft Psalm 1 als Einleitung in die Psalmen und die Ketuvim bewusst an.
Vor diesem Hintergrund können wir den Psalter als Ganzes auch als eine Art Meditation über Gottes Gesetz deuten, ein reflektiertes Nachdenken über Gottes Gebote. Bei diesem Nachdenken geht es jedoch nicht einfach um ein stupides Auswendiglernen und passives Hinnehmen von Gottes Geboten. Die Psalmen nehmen Gottes Gebote in den Alltag hinein und schildern die täglichen und nächtlichen Kämpfe und Schwierigkeiten der Psalmisten, ihr Hadern mit den Umständen und mit Gott selbst. In diesem Ringen mit den alltäglichen Problemen wird deutlich, wie sie diese vor Gott bringen und vor dem Hintergrund seiner Gebote durchdenken. Und in diesem ehrlichen Ringen vor Gott kommen sie immer wieder an den Punkt, an dem sie sich an Gottes Weisungen und Verheißungen festhalten (Ps 19; 119).
Wenn wir in unserem Leben Wurzeln schlagen, ein fruchtbringender Baum (jemand, dessen Leben für andere bereichernd ist) an Wasserbächen sein wollen, sollten wir uns ebenfalls diese Zeit zum Nachdenken über Gottes Wort nehmen. Dazu bieten uns die Psalmen eine unerlässliche Hilfe, solange wir uns die Zeit dafür nehmen, sie in Ruhe zu ‘verdauen’. „Dein Wort ist eine Leuchte meinem Fuß und ein Licht auf meinem Pfad.“ (Ps 119,105)
(Daniel Dangendorf)
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