1.2.16
Ist unser Leben heute so komplex geworden, dass wir es nicht mehr beherrschen können?
Darüber spricht Richard David
Precht mit dem Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge. Wir leben
heute in der komplexesten Welt, die es je gab. Das globalisierte und
digitalisierte Zeitalter liefert uns eine unüberschaubare Menge an Daten
und Informationen. Doch je mehr wir wissen, umso weniger scheinen wir
zu wissen, was wir tun sollen. Angesichts der global über uns
hereinbrechenden Konflikte – wie etwa der Bewältigung der
Flüchtlingskrise, der allgegenwärtigen Bedrohung durch Terror oder der
Ohnmacht vor den immer unvorhersehbareren Verstrickungen im Finanzmarkt –
fühlen sich viele Menschen vermehrt überfordert, ratlos und vor allem
verängstigt. Auch unsere Politiker und andere Entscheidungsträger sind
davon offenbar nicht ausgenommen. Alles hängt mit allem zusammen, sagt
Büchner-Preisträger Alexander Kluge. Er sieht jedoch in krisenhaften
Zeiten Chancen für positive Fortentwicklungen. Nur Gesellschaften, die
sich selbstgenügsam abschotten, verfallen in Stagnation und Stillstand,
so Kluge. Viele flüchten sich in blinden Aktionismus, andere zeigen sich
vermehrt für Verschwörungstheorien empfänglich. Der
Verschwörungstheoretiker braucht das Gefühl, mehr zu wissen als alle
anderen. So überwindet er seine Ohnmacht vor einer Welt, die er nicht
mehr durchschaut, und die ihm zunehmend ungerecht erscheint. Das
Bedürfnis nach Vereinfachung ist verlockend und tröstend. So mancher
zieht sich bereits vom offenen, ungeschützten Feld des Globalen in seine
nationalistischen und privaten Festungen zurück. Doch auch in unserer
ganz persönlichen Lebenswelt haben sich die Zusammenhänge potenziert.
Mehr als in jeder Zeit zuvor verwischt sich heute das, was wir Realität
nennen, untrennbar mit allgegenwärtigen Fiktionen. Die Unterscheidung
zwischen Wirklichkeit und Fiktion scheint immer unbedeutender zu werden,
so Richard David Precht. Die Illusion hat für uns heute annähernd den
gleichen Reiz wie die Wahrheit, wenn sie nur unterhaltsam genug ist. Wir
definieren uns immer weniger über unsere Persönlichkeit, sondern
kreieren stattdessen fiktive Profile, legen User-Accounts an und
vernetzen uns ins Unendliche. Stiftet das Netz Zusammenhänge oder
verwirrt es nicht eher die Menschen? Aus dem Strom der unendlichen Daten
und Meinungen droht ein Meer der Beliebigkeit zu werden, ein Ozean der
Bedeutungslosigkeit.
3sat
3sat