16.6.16

 

Der IS profitiert vom "Franchise-System für Massaker"

Gewaltbereite Psychopathen sind die perfekten Rekruten für den IS. Seit Jahren verüben sie grausame Attentate im Namen der gnadenlosen Terrormiliz. Sie profitiert gleich doppelt davon. 

Und wieder war es ein Einzeltäter. Das Attentat auf einen französischen Polizisten und seine Frau am Montagabend in Magnanville, 60 Kilometer nordwestlich von Paris, ist ein weiteres in einer langen Reihe von Terrorakten der jüngsten Zeit, hinter denen nicht eine ganze Terrorzelle steckt. Und sie kommen mit Ansage. 

Ein Sprecher des IS (Islamischer Staat) hatte in verschiedenen Videobotschaften seit September 2014 alle Muslime im Westen dazu aufgefordert, Andersgläubige "mit allen Mitteln" zu töten, vor allem auch "bei sich zu Hause".
Am 26. Mai hat IS-Sprecher Mohammed al-Adnani erneut eine Nachricht ins Netz gestellt, in der er den Fastenmonat Ramadan, der am Montag vergangener Woche begonnen hat, als einen "Monat des Desasters für alle Ungläubigen" ausrief.
Fakt ist, dass der IS damit eine Art Freischein für weltweiten Ruhm ausgestellt hat. Jeder Nachahmungstäter kann sich inzwischen dieses "Franchise-Systems für Verbrechen und Massaker" bedienen, wie es der französische Philosoph Pascal Bruckner formuliert. Für den IS geht die Rechnung doppelt auf: Er selbst benutzt Attentate für seine Propaganda, die er weder finanziert noch in Auftrag gegeben hat.
Die Kette der Einzeltäter beginnt im Jahr 2012, als Mohammed Merah bei einer Anschlagsserie in Toulouse und Montauban sieben Menschen tötet. Zwei Jahre später, im Mai 2014, erschießt Mehdi Nemmouche vier Menschen im Jüdischen Museum vom Brüssel.
Allein im vergangenen Jahr sind in Frankreich drei Attentate von Einzelpersonen begangen oder vereitelt worden: Im April wird die Fitnesslehrerin Aurélie Châtelain in Villejuif, bei Paris, erschossen. Der Täter wollte das Auto der jungen Frau stehlen, hatte aber eigentlich eine Kathedrale während eines Gottesdienstes überfallen wollen und schoss sich zuvor versehentlich selbst ins Bein.

Unterstützung der Attentäter durch Netzwerke

Am 26. Juni köpft Yassin Salhi seinen Chef und dringt mit einer Flagge der Terrororganisation IS in eine Fabrik in Saint-Quentin-Fallavier in der Nähe von Lyon ein. Als Begründung seiner Tat nennt er "berufliche Probleme". Am selben Tag hat Seifeddine Rezgui im tunesischen Sousse 38 Menschen getötet. 

wei Monate später wird der mutmaßliche Terrorist Ayoub El K. im Thalys von Amsterdam nach Paris von mutigen US-Soldaten auf Europatour daran gehindert, ein blutiges Massaker zu begehen. Das vorletzte Glied dieser langen Kette ist die Messerattacke eines 16-jährigen, offensichtlich psychisch gestörten Türken auf einen jüdischen Lehrer in Marseille, der nur leicht verletzt wurde.
In der Regel sieht es so aus, als ob die Täter komplett eigenständig und ohne Unterstützung handeln. Oft erweist sich im fortschreitenden Verlauf der Untersuchungen, dass sie Netzwerken angehörten und Hilfe bekommen haben. Heute weiß man, dass Nemmouche wenige Monate zuvor ein fast halbstündiges Telefonat mit Abdelhamid Abaaoud, dem mutmaßlichen Drahtzieher der Pariser Novemberattentate, geführt hat. Trotzdem hält sich der Mythos vom "einsamen Wolf" hartnäckig. Er wurde dieser Tage wieder beim Angreifer auf den Nachtklub "Pulse" in Orlando bemüht.

Der IS liefert die Blaupausen

Dabei handelt es sich um ein Konzept, das amerikanische Rechtsextreme in den 90er-Jahren entwickelt haben, um die Polizei in die Irre zu führen: Je weniger man untereinander kommuniziert, je weniger man sich abstimmt, desto einfacher ist es, zur Tat zu schreiten, ohne die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen.
Das gilt natürlich auch für die Anti-Terror-Polizei. Auf den ersten Blick sieht es auch beim Doppelmord in Magnanville so aus, als habe Larossi Abballa auf eigene Faust gehandelt. Aber darf man deshalb vom "einsamen Wolf" sprechen?

"Der Begriff ist eigentlich falsch. Einsamer Wolf ist viel zu schmeichelhaft", sagt Asiem El Difraoui, deutsch-ägyptischer Politologe, Fachmann für Dschihadismus und Internet-Propaganda. "Das Schema ist nicht neu. Der IS liefert die Blaupause und sagt: 'Macht, was ihr wollt!' Insofern handelt es sich um Einzeltäter innerhalb eines Umfeldes, die Aktionen gegen weiche Ziele machen, um die Gesellschaft zu spalten." Das bedeute aber nicht, dass sie sich "ganz allein im Internet radikalisiert haben". In fast allen Fällen bewegten sich solche Täter "in einem radikalen Umfeld oder hatten direkten Kontakt zum IS".
Ganz offensichtlich wird die Grenze zwischen Terroristen und Psychopathen immer schwammiger. Die Medien müssen sich die selbstkritische Frage gefallen lassen, inwiefern sie Gräueltaten wie das in Maganville, wo die Eltern vor ihrem dreijährigen Kind ermordet wurden, die unter anderen Umständen in der Rubrik des Vermischten der überregionalen Zeitung abgehandelt worden wären, eine Plattform und damit weltweite Aufmerksamkeit liefern.

Gewaltbereite Psychopathen sind perfekte Bauernopfer

"In Europa machen gewaltabhängige Psychopathen, Gewaltfanatiker wie Nemmouche den Hauptteil der Rekrutierten aus", sagt El Difraoui und fügt hinzu: "Sie sind die perfekten Bauernopfer. Dazu bekommen sie noch das Heilversprechen, dass ihnen danach alles vergeben wird. Zusammen mit unserem gesellschaftlichen Versagen ist das ein gefährlicher Cocktail."
El Difraoui, der die französische Regierung im Anti-Terror-Kampf beraten hat, warnt davor, dass Frankreich die "Repressionsschraube" weiter anziehen werde, und beklagt das Versagen der französischen Politik seit Nicolas Sarkozy, der die Nachbarschaftspolizei abgeschafft und keinerlei Präventionsarbeit geleistet habe.
Die Regierung Hollande sei "zu zaghaft und zu langsam und traut sich nicht, gewisse Themenbereiche im Wahlkampf wie etwa die sozio-ökonomische Misere in den Vorstädten mit wirklichen Maßnahmen zu bekämpfen", sagt El Difraoui.

Populisten nutzen das Attentat

In Frankreich beginnen derweil Oppositionspolitiker, das Attentat für Stimmungsmache und Wahlkampfzwecke auszunutzen. Eric Ciotti, Abgeordneter der konservativen Republikaner, forderte am Dienstagmorgen die Regierung auf, alle rund 1000 Personen, die unter Beobachtung stehen und als radikalisiert gelten, zu verhaften und einzusperren. "Wir befinden uns im polizeilichen Ausnahmezustand, aber wir bleiben ein Rechtsstaat", antwortete Regierungssprecher Stéphane Le Foll.
Auch für rechtspopulistische Politiker wie Marine Le Pen sind unkontrollierbare und letztlich nur durch Zufall verhinderbare Attacken wie diese ein gefundenes Fressen. "Wir können uns nicht mehr mit Kerzen und Blumen begnügen", sagte Le Pen in einer Videobotschaft, die sie auf Facebook gestellt hat. Die Regierung habe versagt, sie brilliere nur, wenn es darum geht, Gräueltaten zu bedauern und Beileidsnachrichten zu formulieren, sie verhalte sich wie "eine psychologische Krisenzelle", sagte Le Pen.
Allgemein hat man das Gefühl, dass die Franzosen Attacken mit nur wenigen Opfern inzwischen als alltäglich empfinden und nicht in Panik geraten. "Man gewöhnt sich an den Horror", sagt der Philosoph Pascal Bruckner in einem Interview mit der Tageszeitung "Le Figaro".
Er beschäftige und bewege uns ein paar Tage, danach ginge das Leben weiter: "Wir sind in eine abscheuliche Routine gerutscht. Das ist eine Stärke und zugleich auch eine Schwäche. Wie Israel, das seit seiner Gründung regelmäßig Attentate erlebt, sind jetzt alle Demokratien bedroht. Aber die Macht des Vergessens hilft dem Menschen, das Entsetzen zu überwinden."

 



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