28.6.16
Sechs politische Auswirkungen des Brexit
Chaos im britischen Unterhaus, Unklarheit über die Anwendung von
Artikel 50, politische Ungewissheit in Nordirland und Schottland. Vor
dem EU-Gipfel am Dienstag zeichnen sich erste politische Auswirkungen
des EU-Referendums in Großbritannien ab. ARTE Info fasst die wichtigsten
sechs Punkte zusammen.
Unklarheit über die Anwendung von Artikel 50
Der Artikel 50 der Lissabonner Verträge bildet
den Dreh- und Angelpunkt des Brexit. Premierminister Cameron kündigte
entgegen vorheriger Versprechen an, den Artikel 50 erst zu aktivieren,
wenn seine Nachfolge geregelt ist. Das Brexit-Lager erklärte sich mit
diesem Vorgehen einverstanden. Einige Vertreter der "Leave"-Kampagne
hoffen sogar, dass schon vor der Austrittserklärung ein Rahmenabkommen
mit der EU vereinbart wird. Der Kopf der "Leave"-Kampagne, Boris
Johnson, philosophierte bereits über die zukünftigen
Rahmenbedingungen: In einem am Sonntag veröffentlichten Zeitungskommentar im Daily Telegraph schrieb er, dass er weiterhin damit rechne, vom Binnenmarkt und der Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU zu profitieren.
Doch solange Artikel 50 nicht ausgelöst ist,
wird es keine Verhandlungen geben. Dies bekräftigten die
Regierungsvertreter aus Italien, Deutschland und Frankreich nach einem
Treffen am Montag in Berlin. Theoretisch kann Großbritannien das Gesuch
sogar jederzeit zurückziehen, auch wenn EU-Parlamentarier in der
emotional aufgeladenen Atmosphäre das Gegenteil behaupteten.
Die EU signalisiert Stärke, rudert dann aber zurück
Zunächst demonstrierte die EU Entschlossenheit:
Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz traten nach
dem Brexit an die Öffentlichkeit und forderten London auf, umgehend das
Austrittsgesuch einzureichen, um den Artikel 50 der Lissabonner Verträge
zu aktivieren und rasch mit den Austrittverhandlungen zu beginnen.
Doch am Sonntag vollzogen die EU-Regierungen eine Wende. "Die EU kann einen Mitgliedstaat nicht zum Austritt zwingen", hieß es in Brüssel. "Wir erwarten nicht, dass Artikel 50 in dieser Phase ausgelöst wird."
Europas Staats- und Regierungschefs befassen
sich am Dienstag erstmals mit dem Brexit. David Cameron wird die 27
anderen Staatenvertreter beim Abendessen über das Ergebnis des
Referendums informieren. Am Mittwoch darf der Brite dann schon nicht
mehr teilnehmen. Auf der Tagesordnung der Rest-EU stehen dann nur zwei
Fragen: Wie das Austrittsverfahren organisiert werden soll und wie der
Weg für die verbleibenden 27 Mitglieder aussehen könnte.
Politische Zugpferde in Europa: Bemühung um Einigkeit
Den Schock des Brexit deuten viele
europäische Staatschefs als Scheitern der europäischen Integrationsidee.
Gleichzeitig interpretieren sie die Entscheidung des britischen
Volkes als Notwendigkeit, ein neues europäisches Projekt zu entwickeln.
Doch auf der Grundlage welcher Ideen? François Hollande hat sofort
zugesichert, dass sich Frankreich angesichts möglicher
Auflösungserscheinung an der Initiative eines neuen Projekts beteiligen
würde. Er forderte ebenfalls einen schnelle Austrittsprozedur
Großbritanniens, gleich wie der Präsident des Europäischen Parlaments,
Martin Schulz, und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Ihnen
gegenüber steht Bundeskanzlerin Merkel, die ihren Kollegen empfahl, Ruhe
zu bewahren. Das deutsch-französische Duo hat nicht die gleiche Vision
von Europa: Paris träumt im Gegensatz zu Berlin von mehr Integration.
Nun dürfte es wegweisend sein, wie sich Mitgliedsstaaten wie
beispielsweise Ungarn oder Polen positionieren, die von
europaskeptischen Regierungen geführt werden. Diese sind in den letzten
Monaten vor allem dadurch aufgefallen, politische Vorstöße in der
Flüchtlingspolitik zu blockieren.
London: Im Unterhaus liegen die Nerven blank
Der Brexit hat in der britischen Arbeiterpartei
einen offenen Krieg ausgelöst. 37 Prozent der Labour-Wähler haben für
einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Labour-Chef Jeremy
Corbyn wurde vorgeworfen, sich nicht genug für die "In"-Kampagne
eingesetzt zu haben. Corbyn ist kein Anhänger der Europäischen Union:
1975 hatte er öffentlich gegen einen Beitritt zum Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR) geworben.
Corbyn reagierte und entliess am Samstag den
Außenminister des "Schattenkabinetts", der Corbyn als erster kritisiert
hatte. In der Folge brach das Chaos aus: Mehr als ein Drittel der
"Oppositionsregierung" reichte den Rücktritt ein. Corbyn dürfte sich
demnächst einer Misstrauensabstimmung stellen.
Bereits am Tag nach dem Brexit
reichte Premierminister Cameron seinen Rücktritt ein. Es obliege seinem
Nachfolger, der spätestens im Oktober im Amt sein solle, die formale
Austrittserklärung in Brüssel einzureichen, sagte Cameron. Der
Hauptverantwortliche für das Refereundum entzieht sich somit
der Verantwortung.
Derweil sind bei den Tories die Machtspiele um
Camerons Nachfolge entbrannt. Am Montag haben die Tories mitgeteilt,
dass diese bis am 2. September geregelt sein soll. Als aussichtsreichste
Kandidaten werden Innenministerin Theresa May und der frühere Londoner
Bürgermeister Boris Johnson gehandelt.
Schottland: Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Planung
Die schottische Bevölkerung hat dem Brexit bei
dem EU-Referendum mit 62 Prozent eine klare Abfuhr erteilt. Schottland
gilt traditionell als europafreundlich. Die EU stellt für die Schotten
ein Gleichgewicht zum britischen Machtzentrum in London dar.
Entsprechend eindeutig war die Botschaft, welche die regionale
Premierministerin Nicola Sturgeon nach Bekanntgabe der Resultate am 24.
Juni verkündete: Schottland gehöre zur EU und prüfe die Einleitung eines
zweiten Referendums zur Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Die
schottische Regionalregierung, die am Samstag eine Krisensitzung
abgehalten hat, forderte "umgehende Gespräche" mit Brüssel.
Sturgeon hatte schon im Verlauf der Brexit-Kampagne angekündigt,
Schottland werde sich zur Wehr setzen, wenn es gegen seinen Willen aus
der EU herausgerissen werde.
Die Signale aus Glasgow wurden in London
wiefolgt gedeutet: Boris Johnson ließ verlauten, dass er als
Premierminister da nicht mitspielen würde: "Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft", schrieb Johnson im Daily Telegraph. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
Vor zwei Jahren stimmte Schottland mit 55 Prozent für einen Verbleib im Vereinigten Königreich.
Nordirland: Die Furcht vor einer neuen Spaltung
Mit dem Brexit würde die EU-Außengrenze quer
durch Irland verlaufen. Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und
Nordirland sind seit den 1920er-Jahren praktisch abgeschafft. Mit dem
Brexit müssten wieder Grenzkontrollen eingeführt werden. In diesem
Umstand wittern nicht wenige die Gefahr, dass in Nordirland der alte
Konflikt zwischen den protestantischen Unionisten, die sich dem
britischen Königshaus hingezogen fühlen, und den katholischen
Republikanern wieder aufflammt. Der Konflikt ist seit dem
Karfreitagsabkommen von 1998 unter Kontrolle.
Beim EU-Referendum stimmten 56 Prozent der
Bevölkerung in Nordirland für den Verbleib in der EU. Dieses
Resultat spielt der europafreundlichen
und nationalistischen Sinn-Fein-Partei in die Hände: Nordirlands
Vize-Premier Martin McGuinness von der Sinn Fein forderte sofort nach
dem Brexit-Ergebnis, die Nordiren müssten nun auch "über ihre Zukunft mitbestimmen" dürfen. Damit wird eine Volksabstimmung über eine Wiedervereinigung der beiden Irland in Erwägung gezogen.
Sinn Fein ist die zweitstärkste politische Kraft
in Nordirland und bildet mit der Democratic Unionist Party (DUP) die
Regierung in Belfast. Im irischen Parlament in Dublin operiert Sinn Fein
in der Opposition (23 Abgeordnete).
Irlands Ministerpräsident Enda Kenny
versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London
zusammen, um die Grenzen offenzuhalten.