10.7.16

 

Zerrbild eines Systems

Die Blasphemie des Brexit


Die Macht der Märkte und die vermisste Ratio beim Referendum: Warum Unvernunft manchmal ganz vernünftig erscheint.

Wer den Brexit verstehen will, kann bei Wolfgang Streeck nachlesen. Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung schrieb geradezu seherisch: „Wenn Vernunft heißt vorauszusetzen, dass die Forderungen der ‚Märkte‘ an die Gesellschaft erfüllt werden müssen, und zwar auf Kosten ebenjener Mehrheit der Gesellschaft, der nach Jahrzehnten neoliberaler Marktexpansion nichts bleibt als Verluste, dann könnte in der Tat das Unvernünftige das einzig Vernünftige sein“. Das ist in seinem Buch „Gekaufte Zeit“ von 2013 nachzulesen (Suhrkamp Verlag).
Der Brexit ist nicht vernünftig, aber welche Vernunft führte zur Finanzkrise, deren Konsequenzen bis zu diesem Votum reichen? Warum war es nicht möglich, die Ursachen zu erkennen und anzupacken?
Weil diese Vernunft tiefgreifender ist als eine verfehlte Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik. Weil sich diese Vernunft wie eine Virus-DNA in unsere Gesellschaften einnisten konnte und seither Denkschablonen reproduziert, die ihre Politik als unumstößliches Naturgesetz erscheinen lassen.

Steuerstaat wird Schuldenstaat

Deregulierung, Privatisierung und die Entfesselung der Märkte wurden mit den wirtschaftlichen Krisen in den 1970er Jahren zu Synonymen dieser neuen Vernunft. Wolfgang Streeck beschreibt eine Entwicklung vom Steuerstaat zum „Schuldenstaat“.
Die routinemäßige Schuldenfinanzierung erforderte eine leistungsfähige Finanzindustrie. Sinkende Steuereinnahmen werden durch Schulden ersetzt. Die Kürzung der Staatsausgaben durch gesetzlich fixierte Schuldenbremsen funktioniert wie ein Anreiz, immer mehr Bereiche des Gemeinwesens zu privatisieren. Der Motor einer Ideologie, der sich als solides Haushalten verkleidet.
Der Staat ist nicht mehr nur von Bürgerinnen und Bürgern abhängig, sondern zunehmend auch von seinen privatrechtlichen Gläubigern. Ihre Ansprüche resultieren nicht aus der Verfassung, sondern dem Zivilrecht. Private Schiedsgerichte, mit denen Konzerne öffentliche Haushalte anzapfen, sind ein Geschäftsmodell, das auf dem Geschacher einer globalen Neo-Politik fußt. Die „Freiheit“, die beim transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP anklingt, entspricht nur dem ideologischen Neusprech.

Immunisierte Fiskalpolitik


Streeck bezeichnet das Finanzkapital als zweites Volk, als „Marktvolk“. Mächtiger und international, tritt es zunehmend mit dem nationalen „Staatsvolk“ in Konkurrenz. Das verbirgt sich hinter dem Ringen um das „Vertrauen der Märkte“.
Es wird erlangt durch den „Übergang zu einer regelgebundenen Wirtschaftspolitik, zu unabhängigen Zentralbanken und einer gegen Wahlergebnisse immunisierten Fiskalpolitik; durch Verlagerung von wirtschaftspolitischen Entscheidungen in Regulierungsbehörden und Gremien sogenannter Experten; sowie durch verfassungsförmig installierte Schuldenbremsen, mit denen Staaten sich und ihre Politik über Jahrzehnte, wenn nicht für immer, rechtlich binden“, wie Streeck schreibt.
Abstrakte Märkte verkünden endgültige Wahrheit – wie einst die katholische Kirche
Millionen spüren eine abstrakte Übermacht, die nicht greifbar erscheint, aber allgegenwärtig ist. Eine Logik, die unser Leben beeinflusst und das Denken selbst verändert.
Die Berkeley-Politologin Wendy Brown beschreibt ausführlich, wie der Neoliberalismus zur mächtigsten Ideologie unserer Gegenwart werden konnte. Diese prägt nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern durchdringt bereits alle Teilbereiche der Gesellschaft und modifiziert selbst unser Wissen. Sie löst die Demokratie, wie wir sie kennen, durch eine neue, totalitäre Gesellschaftsform ab. Einen neoliberalen Postdemokratismus.


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Kommentare:
Ich persönlich frage mich immer wieder, wie man es anstellt die Menschen von den Auswirkungen und Widersprüchen, des neoliberalen, kapitalistischen Systems, die offensichtlich sind, zu überzeugen. Jenen die weit weniger politisch engagiert oder informiert sind als man selbst. Die Gefahren sind so real und das Wissen um diesen Umstand ist so weit weg. Das Einlullen hat Methode und unsere schwarze Null, wird gefeiert, weil jeder versteht, das Schulden per se nicht gut sind. Die Erklärungen sind dürftig, aber plakativ und verständlich. Durch die Leitmedien wird der plakative Unsinn verbreitet und bleibt, mit treuherzigen Kulleraugen vorgetragen, unwidersprochen. Die Hintergründe aufzurollen, die Auswirkungen klarzumachen, benötigt Wissen um die Sache und Verständnis für manche komplizierte Zusammenhänge, in die man sich einarbeiten muss, um zu verstehen. Das ist mühevoll und für viele Menschen zu viel des Guten. 
Joachim Heissenbüttel

Großbritannien ist ein Ausleger des sog. Neoliberalismus. Die produktive Industrie wurde mutwillig zerstört, siehe die Geschichte der britischen Autoindustrie, die zwischen hochnäsigen Lords und verbohrten Gewerkschaften zugrunde ging. Jetzt wird mit Geldprodukten gehandelt. Von daher ist es logisch, wenn GB aus der etwas sozialeren EU aussteigt. Aber es haben die Alten und Armen für den Brexit gestimmt. Nicht die Jungen.

Gabriel Renoir 

Heute hat die katholische Kirche kein Monopol der Weltauslegung mehr.
Die Märkte oder die Wirtschaft sollten dieses Monopol auch verlieren.
Demokratisch gewählte Personen sollten ausschlieslich ihren Wählern verpflichtet sein.
Darum Trennung von Wirtschaft bzw Märkten und Politik.
Die Politik gibt den Märkten den Handlungsspielraum vor,die Wirtschaft hat sich danach zu richten.Innerhalb dieser Spielregeln sind die Märkte frei,auch frei sich zu verspekulieren und vor die Hunde zu gehen.Kein Wahlkampf mehr mit dem Argument von Arbeitsplätzen.Trennung von Wirtschaft und Staat.Ich bitte einen geeigneten Mitbürger seine Thesen an die Tore der Deutschen Bank zu schlagen.

Mohr Thomas
  
Die Philosophen der Aufklärung haben seinerzeit begonnen, die Macht der Kirche und des Staats zu hinterfragen. Mit ihrem Sprechen von der Vernunft haben sie die Menschen aufgefordert, selbst nachzudenken und sich zu emanzipieren: nicht blind irgendwelchen Autoritäten hinterherzulaufen, sondern selbst beurteilen zu lernen, was legitim ist und was nicht.
Das Gleiche müssen wir heute in unserer Beziehung zu "den Märkten" lernen: Was es braucht, ist Emanzipation. Wir müssen sie uns genau anschauen, welche ihrer Funktionen positiv sind für die Gesellschaft und welche negativ. Und an den negativen müssen wir dann herumschrauben, um diese Effekte zu vermindern und auszugleichen.
Die Märkte haben sicherlich eine tolle Funktion: Sie erlauben viel Kreativität, unterschiedliche Bedürfnisse der verschiedensten Menschen zu befriedigen. Die Planwirtschaft war damit hoffnungslos überfordert. Gleichzeitig haben sie aber den negativen Effekt, Ungleichheit zu fördern. Das geht inzwischen so weit, dass langfristig gesehen der Frieden in Europa in Gefahr sein könnte. Hier müssen wir also gegensteuern.
Emanzipieren wir uns von "den Märkten", jener fast schon personifizierten, aber dennoch abstrakt bleibenden Größe in unserem Leben! Heißen wir sie willkommen, wo sie Gutes tun, und setzen wir ihnen Grenzen, wo sie unsere Gesellschaft zu zerstören drohen!

Smaragd
 


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